Ein weißer Exot

Pfadfinden und Woodbadge in Nigeria

Von Volker Distel

Geschafft! Endlich sitze ich – der tropisch feuchten Hitze entronnen – verschwitzt in der klimatisierten Lufthansa-Maschine und lehne mich aufatmend im Sitz zurück. Eine Stewardess bietet kalte Getränke an. Die Maschine steht noch in Lagos, kann aber nicht vor 24 Uhr abheben, denn in Frankfurt dürfen wir nicht vor sechs Uhr landen, und der Flug dauert gerade sechs Stunden. Schon das Einchecken ist ein Abenteuer für sich. Das Gepäck geht nämlich nicht gleich aufs Förderband, sondern man bekommt es zurück und muss damit zum Zoll. Fünf nigerianische Zollbeamte stehen vor mir und einer sagt etwas unwirsch „open!“ (also: aufmachen). Man sucht nach Artikeln, die nicht ausgeführt werden dürfen, z.B. alte Schnitzereien oder Elfenbein. Aber es geht immer auch darum, irgendwas zu finden, mit dem man den Reisenden Schwierigkeiten machen und sie unter Druck setzen kann. Mit ein paar netten Worten und Scheinchen kann man die Prozedur allerdings etwas abkürzen. Die Uhren gehen in Nigeria anders und man muss sich wohl oder übel anpassen.

Das hilfreiche Pfadfinderhemd

Aber es geht auch anders. Nach zwölf Jahren beruflichem Aufenthalt in diesem Land wusste ich natürlich, was mich am Flughafen Murtala Mohammed erwartet und hatte mich entsprechend vorbereitet. Als ich meinen Kofferdeckel aufklappte leuchtete uns mein dunkelgrünes nigerianisches Pfadfinderhemd mit Halstuch und Staatswappen entgegen, das ich vorsorglich unübersehbar ganz obenauf drapiert hatte. Der Zöllner stutzte – vor Uniformen haben alle noch Respekt – war kurz sprachlos und fragte dann „Are you scout?“ Ich bestätigte und zeigte ihm meinen Mitgliedsausweis der nigerianischen Pfadfinderorganisation. Das hat er wohl nicht erwartet. Die Reaktion kam prompt: „close“ (zumachen) und ich war durch. Das Handgepäck wurde nicht mehr kontrolliert und meine Sachen konnten aufs Band.

Nwabuko erlebt den ersten Schnee seines Lebens

Vor zwei Wochen war ich zu einem Woodbadge-Kurs in Lagos angekommen und zwei Pfadfinderfreunde holten mich am Flughafen ab. Einer davon war Nwabuko, den ich 2007 anlässlich des hundertjährigen Jubiläums von Pfadfinden nach Deutschland eingeladen hatte. Wir erinnerten uns. Einmal fuhr ich mit ihm nach Oberstdorf, um ihm die Berge zu zeigen. Es war September, und als wir mit der Gondelbahn oben auf dem Nebelhorn ankamen, war alles tief zugeschneit. Nwabuko hatte noch nie Schnee gesehen. Es war wie in einem Gefrierfach, hat er später erzählt, aber gefroren hat er nicht. Wir hatten ihn gut ausstaffiert, unseren Afrikaner, siebenfach Klamotten übereinander.

Am nächsten Morgen musste ich von Lagos weiter nach Enugu im Südosten Nigerias, dem früheren Biafra, fliegen, wo ich die zwölf Jahre gelebt und gearbeitet hatte. Und von dort ging es nochmal drei Stunden mit einem Geländewagen zum eigentlichen Ziel, einem Camp (Schul-Areal) in Umuahia, wo der Kurs stattfinden und ich als Trainer mitmachen sollte.

Unterwegs gab es viele Polizeikontrollen, die aber nicht nur kontrollieren, sondern in der Regel auch etwas Geld erwarten, besonders, wenn sie einen weißen Passagier entdecken. Wir – zu sechst im Auto – kamen jedoch dank unserer Pfadfinder-Uniformen ungeschoren durch.

Duschen ohne Wasser  – und Strom gibt es abends

Im Camp angekommen war ein Gebäude für die Officers, das Kursteam, reserviert und ich durfte mir das Zimmer aussuchen. Ich fand eines, in dem neben dem Wohnraum mit Bettgestell, Tisch und Stuhl sogar noch ein kleines Badezimmer mit Badewanne, Waschbecken und Toilette vorhanden war. Nur, wie sich später herausstellte, kein Wasser. Das mussten wir dann täglich mit Eimern von einem Tank holen. An Baden oder Duschen war also nicht zu denken, aber immerhin waschen konnte ich mich. Strom gab es nur in den Abendstunden vom Generator, alle Steckdosen waren dann von den Handys belegt.

Deutsch-afrikanische Tauschgeschäfte

Wie ich Woodbadge-Trainer geworden bin? Als ich damals beruflich nach Nigeria versetzt worden bin, habe ich gleich wieder Kontakt zu Pfadfindern aufgenommen. Daraus haben sich Freundschaften entwickelt und auch eine Partnerschaft zu deutschen Pfadfindern entstand. Viermal wurden wir von einer VCP-Gruppe aus Stuttgart besucht und haben tolle Unternehmungen miteinander durchgeführt und Abenteuer erlebt. Ganz scharf waren die deutschen Pfadis auf die besonders großen Hörner der nigerianischen Rinder. Die Nigerianer haben sie schön präpariert und ich sie gelegentlich im Koffer mit nach Deutschland genommen. Im Gegenzug haben die Deutschen gebrauchte Vierecksplanen von der Bundeswehr besorgt, die dann als Beipack in einem Frachtcontainer nach Nigeria gekommen sind. Zelte haben die afrikanischen Pfadis hier so gut wie keine.

Ein besonderes Erlebnis war eine Fahrt zum Abraka-River. Ein Fluss mitten im Dschungel. Glasklares Wasser, weißer Sand auf dem Grund, starke Strömung. Wir ließen uns mit dem Auto ein paar Kilometer flussaufwärts fahren und haben uns dann in geliehenen LKW-Schläuchen abwärts treiben lassen. Unterwegs kurze Rast im Wasser an Lianen hängend oder auf einem kleinen Steg in der Sonne sitzend. Das hat riesigen Spaß gemacht und über eine Stunde gedauert.

Ein weißer Exot bringt Internationalität

Ich selbst hatte keine eigene Pfadfindergruppe in Nigeria, habe aber viele besucht und bin auch oft zu Veranstaltungen auf lokaler und nationaler Ebene eingeladen worden. Als weißer Exot war ich gerne gesehen, habe ich doch ein bisschen Internationalität einbringen können. Auch bei Schulungen war ich mit dabei und habe mich selbst „weiter qualifiziert“, bis ich letztlich gecharged (blödes Wort), d.h. in das nigerianische Schulungsteam aufgenommen worden bin, in dem ich auch jetzt noch aktiv mitmache.

Unsere Stufenkonzeption in Nigeria

Mir macht es Spaß, dort mitzuwirken, zumal ich deren etwas starren Schulungskonzeption neue Impulse geben kann. Ein Beispiel ist das „Dynamic System“, das unserer VCP Stufenkonzeption entspricht. Hier hat der VCP eine gute Arbeit geleistet und ich habe Teile davon ins Englische übersetzt, besonders die detaillierte Ausarbeitung der Altersstufen und die Definition der Entwicklungsbereiche. Aber auch Karte und Kompass ist eines meiner Themen. Man muss wissen, dass es dort außer großen Straßenkarten keine topografischen oder Wanderkarten gibt und auch keine Kompasse. So nehme ich jedes Mal ein halbes Dutzend Kompasse mit, die ich dann für weitere Schulungszwecke dort lasse.

Woodbadge – ein großes Event

Die offizielle Eröffnung eines Woodbadge-Kurses ist jeweils ein großes Event und es wird die lokale Prominenz dazu eingeladen. In Nigeria gibt es mehrere Woodbadge-Kurse im Jahr. Sowohl die normalen WB-Kurse für Leader/Leiter als auch ALT- (Assistant Leader Trainer) und LT- (Leader Trainer) Kurse für Ausbilder. Ein WB-Kurs hat bis zu 40 Teilnehmer, aufgeteilt in etwa fünf Kurs Patrols, und zehn Personen im Leitungsteam (einschließlich Material und Verpflegung). Wichtig ist das obligatorische Kursfoto, auf dem alle Teilnehmer durchnummeriert werden und das auch als Nachweis für die Teilnahme dient.

„Please fasten your seat belts“. Die Ansage holt mich aus meinen Gedanken zurück. Die Maschine rollt an. Ein letzter Blick aus dem Fenster in die dunkle Nacht. Afrika, ich komme wieder.

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