Japan ist eine Insel – geografisch und kulturell

Wie sieht der Alltag japanischer Jugendlicher aus? Tristan Schumann von der Truppleitung Niedersachsen berichtet anp von seinen Erfahrungen.

anp: Tristan, du bist in Japan zur Schule gegangen? Was hat dich dazu motiviert?

Tristan: Dazu muss man wissen, dass ich das Glück hatte, in einen der sehr raren Japanisch-Kurse zu geraten, der als dritte Fremdsprache in der Schule zählte. Es war also kein Volksschulkurs, sondern ein echtes Fach, das ich von der siebten bis zu zwölften Klasse belegt habe. Als dann in der neunten Klasse die Möglichkeit hatte, an einem etwa einmonatigen Japanaustausch teilzunehmen, war es für mich eigentlich Pflichtprogramm.
Die Motivation kam durch den regelmäßigen Sprachunterricht, in dem wir verschiedenste Aspekte Japans behandelten. Meine Lehrerin war selbst Japanerin, weshalb ich einen noch authentischeren Einblick erhielt. Daneben hat mich auch die Neugier getrieben, einmal in einem ganz fremden Land etwas vom Alltag Gleichaltriger mitzubekommen.

anp: was sind die Unterschiede zu deutschen Klassen? Wie verhalten sich die Schüler untereinander? Wie benehmen sie sich gegenüber den Lehrkräften?

Tristan: Die größten Unterschiede sind meiner Meinung nach kulturell angelegt und ähneln sehr den Unterschieden, die man auch zwischen dem ‚Durchschnittsjapaner‘ und dem ‚Durchschnittsdeutschen‘ ausmachen könnte. So ist eine Gruppe, in diesem Fall eine Klasse, als Einheit sehr eng verbunden. Es wird eher kollektiv gedacht als individuell. Was nicht heißen soll, die Schüler wären in ihrem Charakter gleichartig. Es gibt die gleichen Rollen wie in jeder deutschen Schulklasse auch – ruhige Schüler und Draufgänger, Klassenclowns und sehr Strebsame. Aber den Zusammenhalt der Klasse und die Annahme der zugeteilten Rollen habe ich in Japan als selbstverständlicher wahrgenommen. Man betrachtet sich eher als Teil der Gruppe und in vielen Fällen hatte ich das Gefühl, dass viele ihre Rolle auch schätzen. Natürlich gibt es trotzdem Mobbing – ich glaube, sei es nun im Kindergarten oder unter Erwachsenen am Arbeitsplatz, es gibt kaum einen Ort, an dem es kein Mobbing gibt. Wirklich miterlebt habe ich es allerdings nicht.

Gegenüber den Lehrkräften sind die Schüler gehorsam und freundlich. Ganz entgegengesetzt zu den hier in Europa gängigen Vorstellungen vom strikt durchstrukturierten und geregelten Fernen Osten verhält es sich nicht so, dass Lehrer wie Lektoren, kommen, ihren Vortrag halten und danach wieder verschwinden. Die Schüler verbringen häufig viel Zeit mit den Lehrern, da die jährlichen Prüfungen viel Übung und spezielle Vorarbeit benötigen. Außerdem ist ein großer Teil der Freizeitaktivitäten in der Schule organisiert, also trifft man manche Lehrer auch außerhalb des Unterrichts. Auch wenn es von Schüler zu Schüler unterschiedlich ist, habe ich teilweise beinahe freundschaftliche Beziehungen zwischen Lehrern und Schülern beobachtet.

Im Hinterkopf muss man sich trotzdem immer bewusst machen, dass das sehr klare, hierarchische Modell der japanischen Schule – das übrigens das deutsche zum Vorbild hatte- dabei niemals außer Kraft gesetzt wird. Geschweige denn die noch verpflichtenderen, japanischen Gesellschaftskonventionen. Man könnte sie eher unsichtbare, aber gültige Gesetze nennen.

anp: Beschreibe doch mal einen typischen Schultag an einer japanischen Schule?

Tristan: Aufstehen war um 5.30 Uhr angesagt. Es gab zum Frühstück häufig etwas Warmes, wie Rührei und Bacon, und „Pan“, japanisches Brot. Um 6.00 Uhr ging ich ein gutes Stück zur nächsten S-Bahn-Station, stieg drei Mal um und kam endlich gegen 8.00 Uhr an meiner Schule an. Schule war regulär von 8.30 Uhr bis 15.30 Uhr, aber natürlich ließ ich mir die Nachmittagsaktivitäten nicht entgehen, weshalb ich meistens erst um 17.30 Uhr nach Hause aufbrach. Außerdem hatte ich auch an Samstagen Schule. Ein normaler Schultag hatte 6 Stunden, neben den normalen Fächern wie Mathe, Sport, Naturwissenschaften, Kunst, Geschichte, Englisch und Japanisch gab es zusätzlich „Shodo“ (Japanische Kalligraphie) und beaufsichtigte Stunden zum Lernen und Üben. Die Austauschschüler wie ich hatten natürlich besondere, auf unser Niveau zugeschnittene Japanisch- und Shodo Stunden. Die Nachmittagsaktivitäten, genannt Bukatsu, konnte man aus verschiedenen Angeboten wählen. In meinem Fall waren das Kendo (japanischer Stockkampf) und Basketball. Wenn man nach diesen langen Tagen noch Energie hatte, unternahm man noch etwas mit seinen Freunden oder ging direkt nach Hause, aß zu Abend, schaute ein wenig Fernsehen mit der Gastfamilie und ging schließlich zu Bett.

anp: wie ist das Verhältnis von Jungen und Mädchen? Wie ist das Verhältnis zwischen stärkeren und schwächeren Schülern? Gibt es da eine Hackordnung? Oder ist man eher hilfsbereit?

Tristan: Ich würde sagen, dass die Rollen von Jungen und Mädchen ganz verschieden sind. Nicht nur, dass sie selten in gemischten Grüppchen anzutreffen sind, auch im Unterricht verhalten sie sich unterschiedlich. Obwohl es ohnehin geordneter und ruhiger zugeht als in unseren Klassen, zeigen sich die meisten Mädchen folgsam und lernen gewissenhaft. Sie wirken ruhig und agieren meist, um die Harmonie, so sie denn einmal gekippt ist, wieder ins Lot zu bringen. Sie kichern und lächeln ungewöhnlich viel, finden alles kawaii (niedlich) und kümmern sich sehr um ihre Mitschüler und Mitschülerinnen.
Jungen sind eher die stillen Typen, häufiger Einzelgänger, selten auch recht autoritär. Man spürt, dass viele männliche Jugendliche in dem Bewusstsein leben, dass sie einmal wirtschaftlich erfolgreich sein müssen, während den weiblichen Jugendlichen viel daran liegt, sich in Fürsorge und Hilfsbereitschaft zu üben. Das Verhältnis funktioniert gut, solange diese Rollen gewahrt bleiben – was im Normalfall der Fall ist.

Stärkere und schwächere Schüler leben in einem Machtgefälle, auch wenn ich keine wirklichen Fälle von Mobbing erlebt habe. Man bemerkt dieses Gefälle vor allem durch die Bewunderung, die guten Schülern von Lehrern und ihren Klassenkameraden entgegen gebracht wird. Schlechtere Schüler bemühen sich sichtlich, aufzuholen. Sie sind selten Klassenclowns, sondern nehmen eher die Rolle der Stillen, beinahe Unsichtbaren ein. Eine Hackordnung konnte ich nicht ausmachen – aber es gibt Unterschiede in der Autorität und im Ansehen. Schulischer Erfolg ist eine Leistung und bringt dir Respekt und Bewunderung ein, sie macht wichtig und legitim. Damit verleiht sie auf eine gewisse Weise Macht im Mikrokosmos Schule.

Hilfsbereit zu sein gehört aber zur Höflichkeit. Ein guter Schüler ist sich nicht zu schade, einem schwächeren zu helfen. Viel eher ist der schwächere damit nicht einverstanden, weil er es aus eigener Kraft schaffen möchte.

anp: stimmt es, dass die Kinder so stark gedrillt werden? Welche Fächer sind besonders wichtig?

Tristan: Der Drill ist auf jeden Fall ein beherrschender Faktor. Da die Examen und die Abschlussnoten wichtig sind, wird viel gelernt, viel eingetrichtert, nach unseren Begriffen also viel gedrillt. Auch wenn ich keine Examen geschrieben habe (ich wäre wahrscheinlich gnadenlos gescheitert), wage ich zu behaupten, dass diese sehr viel exakte Wissenswiedergabe erfordern und daher lernintensiv sind. Und nach der Schule geht es gleich weiter, denn nur der Abschluss allein reicht noch nicht für die Uni.

Um den Aufnahmetest der Universität zu bestehen, ist nochmal ein großer Lernaufwand nötig. Vorhersehbar: Die besten Unis haben die schwersten Tests. Und wer im ersten oder zweiten Anlauf nicht angenommen wird, hat noch schlechtere Chancen für zukünftige Versuche. Dieser dauernde Prozess des Aussiebens ist für die Schüler ein großer Druck, dem viele nicht standhalten. Nicht umsonst hat Japan eine sehr hohe Jugendsuizidrate.

Ich denke, Mathe, Japanisch und Naturwissenschaften sind wichtige Fächer, weil die Jobs in Wirtschaft und Technik die begehrtesten sind. Wegen der ungemeinen Komplexität der geschriebenen Sprache kommt dem Fach Japanisch eine unvergleichbar wichtigere Rolle zu als bei uns dem Fach Deutsch. Es sind sehr gute Kenntnisse für die meisten Studiengänge nötig.

anp: Wie würdest du die Unterschiede zu deutschen Schulen beschreiben?

Tristan: Zuerst einmal gibt es in Japan sehr viele Privatschulen unterschiedlicher Güte und dazu noch die staatlichen Schulen. Ähnlich wie in Amerika und England ist es aber so, dass diejenigen, die es sich leisten können, ihre Kinder auf teure Schulen schicken. Das Niveau der vermittelten Bildung ist für unsere Begriffe zwischen den staatlichen und den privaten Schulen sehr unterschiedlich. Und der Abschluss einer bestimmten Schule kann sich durchaus als entscheidend dafür erweisen, ob man auf seiner präferierten Universität angenommen wird. Deutsche Schulen bieten viel mehr Chancengleichheit.

Andererseits sind viele der Schulen sehr gut ausgestattet. Eine logische Konsequenz aus den häufig erhobenen Schulgeldern. Die Schule beinhaltet ein breites Angebot an AGs und Sportarten, Freizeitaktivitäten, Instrumentenunterricht, etc.

Ein sichtbarer Unterschied sind die Schuluniformen, die an allen Schulen getragen werden müssen. Auch wenn sie die Schüler untereinander egalisieren, grenzen sich teure Schulen mit teuren Uniformen von den weniger betuchten Schulen mit weniger teuren Uniformen ab. An Lebhaftigkeit und Geräuschpegel stehen die japanischen Schulen den deutschen aber in keiner Weise nach.

anp: Wie war es für dich, als du wieder in Deutschland an der Schule warst

Tristan: Es war, als wäre ich in einer ziemlich losen Ansammlung von etwa gleichalten Schülern gelandet. Man ist sich ein wenig fremder in den Schulen hierzulande. Auch kam der kategorisierende Blick zurück, den die Schuluniformen unmöglich gemacht hatten – und ich war beileibe nicht als Befürworter von Uniformen nach Japan geflogen.

Ich hatte mich darüber hinaus schnell an den Frontalunterricht gewöhnt. Das häufige Diskutieren im Klassenverbund kam mir im Vergleich nicht so zielführend, dafür aber auch nicht so langatmig vor.

Zuletzt ist vielleicht noch zu erwähnen, dass Struktur und Pünktlichkeit in japanischen Schulen ernster genommen wird als bei uns. Die wiedergewonnene Lockerung empfand ich als angenehm, was aber auch an mir persönlich liegen mag. Ich möchte mir nicht anmaßen, diese unterschiedlichen Handhabungen zu bewerten.

anp: Kannst du dir vorstellen, in Japan zu studieren oder dort zu leben?

Tristan: Erste Frage: Nein, zweite Frage ja. In Japan studieren ist für mich keine besonders attraktive Aussicht. Das viele anstrengende Lernen und die (vor allem bei komplizierten Texten) kaum zu bewältigende Sprache wären Hindernis genug. Wer in Japan studieren möchte, sollte naturwissenschaftliche oder wirtschaftliche Fächern oder natürlich die japanische Sprache selbst studieren. Bei ersteren ist die Sprachproblematik nicht so gravierend, bei letzterem dürfte die Beschäftigung intensiv genug sein, um der oben genannten Beeinträchtigung entgegen zu wirken. In jedem Fall sollte man einen überdurchschnittlichen Ehrgeiz mitbringen und ein Organisationstalent (für das eigene Lernen) sein. Einem Auslandssemester gegenüber wäre ich jedoch nicht abgeneigt.

In Japan leben käme für mich schon eher in Frage. Es gibt kaum fremdere Kulturen. Sicher wird einem als Europäer in Japan das ganze Leben nicht langweilig werden. Auch bietet die Landschaft viel – von der urbanen Superlative von Tokyo, der ich beispielsweise sehr zugeneigt wäre, bis zu den ländlichen Gebieten mit ihren alten Holzhäusern und tausenden Tempeln und Schreinen.

Bei all dem darf man allerdings nicht vergessen, dass Japan nicht nur geographisch eine Insel ist, sondern auch kulturell und politisch. Und diese Insel ist wahrscheinlich die modernste und weltfremdeste zugleich. Ob ich so viel „Fremde“ in allen Lebensbereichen mein Leben lang aushalten kann, weiß ich nicht. Eine Zeit lang auf jeden Fall. Dennoch stehen die Chancen nicht schlecht, in all der Eigenheit die Welt aus den Augen zu verlieren.

anp: Herzlichen Dank, Tristan, für diesen Einblick in die andere Welt.

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