Russland vor der WM – kein Sommermärchen in Sicht

Euphorische Stimmung, glückliche Menschen, fröhliche Spiele – Erinnerungen an das Sommermärchen 2006 in Deutschland. Fußball war das Thema Nummer 1. Doch hier ist es anders. Seit 10 Monaten wohne ich nun in Russland, habe Land und Leute kennengelernt und auch einen netten kleinen Pfadfinderstamm mitten in Sankt Petersburg gefunden. Monatlich treffen wir uns zur Gruppenstunde – ein Thema kam nie zur Sprache: Fußball! Und das, obwohl doch bald Weltmeisterschaft in Russland ist.

Mona während einer Gruppenstunde in St. Petersburg.

 

Die Weltmeisterschaft in Russland steht weltweit in der Kritik und verbreitet auch bei den Einheimischen nicht nur Begeisterung.

Sieben der insgesamt elf Spielstätten wurden extra für die Weltmeisterschaft gebaut. Und bereits sieben Städte beantragten staatliche Gelder, um die Stadien in Zukunft betreiben zu können. Das Stadion in Sankt Petersburg wird auch „Denkmal der Korruption“ genannt. Menschenrechtsverletzungen beim Bau sind ein offenes Geheimnis. Eigentlich braucht ohnehin niemand die großen Arenen der Fifa. Immerhin gibt es in sechs Austragungsorten nicht mal einen Verein in der ersten Liga und auch die Clubs von Moskau und Sankt Petersburg füllen selten ein Stadion mit 70 000 Menschen. Nur wenige Russen*Russinnen interessieren sich wirklich für Fußball.

Die Metrostation am Stadion in Sankt Petersburg sollte ein Geschenk an die Bürger*innen der Stadt werden. Ein Geschenk bezahlt aus Steuergeldern, an einem Ort, an dem außer dem Stadion nichts ist. Andere, bereits vor Jahren begonnene und für die Bevölkerung deutlich wichtigere Projekte, stehen still. Es verbreitet sich der traurige Verdacht, dass hier ein Zusammenhang besteht. Hausfassaden und Zäune werden gestrichen, Straßen ausgebessert und mehr Barrierefreiheit geschaffen. Man hat jedoch wenig Hoffnung, dass die aufpolierten Innenstädte, auch nach der Abreise der ausländischen Fans mit gleicher Sorgfalt gepflegt werden. Hinzu kommen die Einschränkungen im Alltag durch die erwarteten Menschenmassen, zahlreiche Straßensperren und Umleitungen. In Moskau hat man außerdem die Fanmeile direkt vor die Türen der Universität gelegt.

Zum Glück ist aber doch nicht alles schlecht. Denn viele Tourist*innen bringen auch viel Geld mit. Kreative Köpfe versuchen momentan die besten Strategien zu entwickeln, um möglichst viel davon zu bekommen. Wohnungen werden zum drei- oder vierfachen Preis vermietet und sind trotzdem seit Wochen ausgebucht. Je näher das Großereignis rückt, desto häufiger stößt man vereinzelt doch auf leichte Vorfreude. Und auch der mögliche kulturelle Austausch zwischen Fans und Einheimischen kann eine große Chance sein. In mehreren Austragungsorten haben sich Aktivisten, Menschenrechtler*innen und Journalist*innen zusammengetan, um das beste aus der Weltmeisterschaft zu machen, die sie nun ohnehin nicht mehr abwenden können. In Sankt Petersburg hat sich rund um Olga Polyakova die Initiative „Cup for people“ gegründet, die durch bunte Stadtführungen, Ratgeber und Diskussionsrunden die einheimische Bevölkerung mehr einbinden und gleichzeitig ausländischen Tourist*innen einen tieferen Einblick in die Stadt geben möchte. Sie wollen das Bild ihrer Heimat im Ausland verändern. Sie wollen auf Missstände aufmerksam machen, aber auch die schönen Seiten ihrer Kultur präsentieren. Sie wollen Vorurteile abbauen und für mehr Offenheit gegenüber anderen Kulturen werben. Sie wollen die eigene Zivilgesellschaft ermutigen gegen Ungerechtigkeiten zu protestieren und sich aktiv am Stadtleben zu beteiligen. Sie wollen die Weltmeisterschaft nutzen, um im Kleinen etwas zu verändern. Ganz nach dem Motto „jeden Tag eine gute Tat“ kann vielleicht doch noch ein kleines Sommermärchen gezaubert werden.

Mona hat noch einen Beitrag während der WM geschrieben – wie sieht die Stimmung in Russland jetzt aus?

Ein Sommermärchen für Russland?

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