von Johanna Mixsa
Das habe ich mich schon oft gefragt. Je älter ich geworden bin, desto öfter wurde ich mit der Tatsache, dass ich aus Sachsen komme, konfrontiert. Und das Wort konfrontiert habe ich ganz bewusst gewählt. Wie oft mir die Frage gestellt wurde: „Warum ist die AfD bei euch so stark?“. Oder wie es eben so sei, im „Osten“ zu leben. Gerne will ich euch hier ein paar Einblicke geben.
Es ist Himmelfahrt in diesem Jahr. Für die meisten wohl eher Vater- oder Herrentag. Ich treffe am Bahnhof Jugendliche mit Fischerhüten. Ein Teil in Farben der Deutschlandfahne. Andere tragen sie mit den Farben der Reichskriegsflagge. Das ist wohl genau das, was Menschen erwarten. Auf meinem Heimweg begegnen mir Wahlplakate, die den „Säxit“ fordern.
Auch meine Eltern kommen aus Sachsen, der eine Teil meiner Großeltern hat Stasi-Akten so dick, dass man damit einen Menschen erschlagen könnte. Der andere Teil denkt manchmal gerne an die DDR zurück. Die Wende war also zu Hause immer wieder Thema, die Deutsch-Deutsche Geschichte präsent. Wie sehr ist mir das erste Mal richtig bewusst geworden, als ich im FSJ war. Eigentlich alle außer mir kamen aus NRW und wussten für mich erschreckend wenig zum Thema DDR. Aber klar, nach der Wende hat sich auf dem Gebiet der alten Bundesländer wenig geändert. Die BRD wurde einfach um das Gebiet der DDR erweitert. Hier hingegen wurde Land neu verteilt, Industrie stillgelegt und alles nach dem Vorbild der BRD angepasst.
Es ist Bundestagswahl 2021. Nach dieser Wahl lese ich auf Social-Media vermehrt Kommentare wie: Wir sollten die Mauer wieder hochziehen. Das hinterlässt das Gefühl, nicht gewollt zu sein. Und wirft die Frage auf, warum Menschen denken, dass das „Problem“ lösen könnte. Wenn der Slogan „Vollende die Wende“ bzw. Wende_2.0 im Wahlkampf in ostdeutschen Bundesländern verwendet wird, wird deutlich: Die Deutsch-Deutsche Geschichte ist nicht vorbei. Nicht für alle. Ob es okay ist, die friedlichen Proteste der DDR zur Waffe im Wahlkampf zu machen, ist eine andere Frage.
Ich fahre mit dem Zug von Dresden nach Berlin. Hinter mir zwei alte Damen, die sich unterhalten. Die eine erzählt, dass sie ehemalige Tänzerin in der DDR war. Ihr rollendes „R“ macht deutlich, dass sie aus der Lausitz kommt. Durch die Wende und Umstellung des Rentensystems bekommt sie die ihr damals versprochene (viel zu niedrige) Rente nicht mal ansatzweise und kann kaum davon leben. Für viele war die Wende ein Umbruch, Zukunftspläne sind nicht mehr aufgegangen (so sehr, wie man in einem Regime wie der DDR eben die Zukunft planen kann). Und nicht alle haben es geschafft, im geeinten Deutschland Fuß zu fassen. Slogans wie „Vollende die Wende“ bzw. Wende_2.0 werden heute noch im Wahlkampf in ostdeutschen Bundesländern verwendet.
Auch vor der Pfadi-Welt macht das Thema keinen Halt. Ich bin frisch Landesleitung im VCP Sachsen und fahre im Alter von 17 Jahren zu meinem ersten Bundesrat. Das war sowas wie ein Kulturschock. Alkohol gibt es bei uns im Land nicht, auch sonst scheint die VCP-Kultur bei uns anders zu sein. Ich lese Baghira-Texte: Gesunde Stämme haben 60 Mitglieder. Der Durchschnitt bei uns liegt wohl eher bei 20. Auf dem Papier.
Ich habe ein Gespräch mit meiner Oma. Nein, die Pfadis sind keine staatliche Organisation. Mit Eltern von unseren Gruppenkindern spreche ich darüber, warum wir Kluft und Halstuch tragen. Sie fühlen sich dadurch zu sehr an die FDJ (Freie Deutsche Jugend, Jugendorganisation der DDR) erinnert und sind sich unsicher, ob sie wollen, dass ihre Kinder so etwas tragen.
Das Weltpfadfinder*innentreffen steht an. Ist es in Ordnung, wenn sich die einzige (von 29 insgesamt!) „Ostdeutsche“ Unit beim Jamboree „Karl Marx“ nennt?
Im Rahmen der Bundesversammlung wird mir im Rahmen der Wahl des Bundesvorstands/Bundesleitung der Titel/die Kompetenz „Quoten-Ostfrau“ zugeschrieben.
Trotzdem kann ich die Einstiegsfrage klar beantworten: Nein. Ich bin nicht im verkehrten Teil Deutschlands zuhause. Ich lebe immer noch (bzw. wieder) in Sachsen, jetzt sogar im ländlichen Raum. Aber ich gehe nicht. Abgrenzen und nicht zuhören, das löst unser Problem nicht. Ich denke, in den letzten Jahren hat sich schon viel getan. Es ist wichtig, dass wir über Erfahrungen reden und alte Muster aufbrechen. Durch mein Umfeld ist „Ostdeutsch“ irgendwie auch Teil meiner Identität geworden.
Und vielleicht geht dein nächster Urlaub ja mal nicht nach Frankreich oder Italien, sondern Thüringen oder Brandenburg?