Gute Geheimnisse – schlechte Geheimnisse?

von Esther Koch

Täter*innen, die gegenüber Kindern und Jugendlichen sexuell übergriffig werden, achten darauf, dass die Betroffenen schweigen und sich niemanden anvertrauen.

Deshalb ist es ein wichtiger Teil der VCP-­Präventionsarbeit deutlich zu machen, dass „schlechte Geheimisse“ ausgesprochen werden dürfen. Nicht so einfach, sagt Harald Wiester, der selbst Übergriffe in den 80er Jahren im VCP-­Kontext erlebt hat. Die Präventionsbeauftrage Esther Koch ist mit ihm darüber im Gespräch.

Esther: Wie und wann kamst du zum VCP?

Harald: Mein Stamm suchte Ende der 70er Pfadis für eine neue Sippe, wahrscheinlich kam der Aufruf dazu über die Gemeinde. Wie das so ist: Meine Eltern wollten mich in Freizeit und Ferien betreut wissen, und ich wollte Freunde kennenlernen und was erleben.

Was hast du dort erlebt?

Tolle Sachen, Lager natürlich, auch eine Englandfahrt.
Bei einem Landeslager sah ich zum ersten Mal den Referenten, der überregionale Seminare mit Übernachtungen und die Indianer­AG anbot. Mit 14 war ich dabei. Bald erlebte ich dort den ersten Übergriff. Nachdem mir schlecht geworden war, quartierte mich der Leiter, der dreimal so alt war wie ich, auf seinem Bett ein und machte sich am Morgen an mir zu schaffen.

Hast du den Übergriff jemanden anvertraut?

Nein. Ich dachte, wenn ich nichts sage, dann könnte er vielleicht unwichtig und folgenlos bleiben.

Die Treffen waren beliebt, ich wollte dabeibleiben, war aber irritiert und beschämt von dem Übergriff. Ich wusste: das war nicht in Ordnung, aber ich hatte Schuldgefühle.

Aufdeckung ist auch deshalb schwer, weil alles vom Kopf auf die Füße gestellt und Verantwortung übernommen werden müsste. Wenn das passiert, dann nicht ohne Ärger, das ahnt man.

War es also ein Geheimnis, zwischen dir und dem Täter?

Eher Überrumpelung und Manipulation. Mich glauben machen, es sei eine geheime Beziehung, gehörte zur Täterstrategie. Die funktionierte unausgesprochen. Ich wurde z. B. exklusiv eingeladen. Später versuchte er, Mitleid für seine Lage zu erwecken – er sei halt so, also: nicht hetero. Eine Lüge. Zum Schluss tat er sehr hilflos, falls ich mich abwenden, sprich: etwas erzählen sollte. Ich wollte ihm nichts Schlimmes. Alle diese Manipulationen taten ihre Wirkung, auch langfristig, denn ich konnte das nicht einordnen.

Was hat es mit dir gemacht, die Übergriffe für Dich zu behalten?

Der Täter deutete meine unklare Haltung als Zustimmung und nutze mein Schweigen aus. Ich löste meinen inneren Konflikt so, dass ich aus den Übergriffen weiterhin keine große Sache machen wollte, ich unterdrückte also meinen Widerwillen und all die unguten Gefühle, die damit verbunden waren, und ich hielt das auch danach jahrzehntelang für eine aufgeklärte und überlegene Haltung, zu sagen, nur eine Erfahrung, nur ein Kratzer, das war nicht so schlimm. Spoiler: war es doch. Mir wurde damals ein viel zu großer Brocken aufgehalst, den ich nicht abwerfen konnte. Das gibt man in dem Alter nicht gerne zu, weil man ja stolz ist, kein Kind mehr zu sein – sowas zählte. Komisch zu werden und Probleme zu haben, die den Verband aufwühlen könnten zählt vielleicht erst mal nicht so, das fürchtete ich jedenfalls. Oder seid ihr da weiter inzwischen?

Ja, wir haben inzwischen ein deutlich anderes Bewusstsein. Wir vertreten klar die Haltung, dass grenzverletzendes Verhalten bei uns keinen Platz hat und wir hier entschieden auf Seite der Betroffenen stehen. Es stimmt leider immer noch, dass das Aufdecken von Vorfällen für Aufhebens sorgt. Das ist gerade für Betroffene schwierig. Wir lassen Betroffene in der Situation nicht allein, sondern wir unterstützen sie, wo es nur möglich ist. Und wir sagen klar, dass es in der Verantwortung der Erwachsenen und der Verantwortungsträger*innen ist, für den Schutz von Kindern und Jugendlichen zu sorgen! Glaubst du, dass es dir rückblickend geholfen hätte, den Vorfall früher zu berichten?

Gegen das Zusammentreffen von Manipulation mit meinem Selbständigkeitsstreben war schwer anzukommen. Ohne die Taten grob einordnen zu können, hätte es für mich kaum Anlass zur Offenlegung gegeben. Gelegenheiten zum Reden zu schaffen, ist dennoch richtig!

Wussten andere von dem „Geheimnis“?

Das würde mich auch interessieren! Der Mann war rund zehn Jahre beim VCP und ich nicht sein einziges Opfer.

Meine Eltern schickten ihn einmal weg, weil sie merkten, dass mir sein Besuch unangenehm war. Es gab einen Jungen, der auch verstrickt war. Monate später trafen wir uns, nutzten das aber nicht zur Aufdeckung.

Wann hast du das erste Mal von deinem erlebten sexuellen Missbrauch
erzählt?

Abgesehen davon? Der Freundin spä­ter, in einer geschönten Version. Meine Verharmlosung bestand später darin, mir das als schwule Erfahrung schönzureden, dabei hatte das damit nichts zu tun. Ende der 90er brauchte ich eine Therapie. Da erzählte ich davon, auch der Familie, noch verharmlosend. Erst nach 2010 gab es eine gesellschaftliche Diskussion um Missbrauch an Jungen. 2014 rief ich den Täter an und fragte ihn, was er sich denn gedacht habe. Als ich 2017 Zeit hatte, schrieb ich endlich öffentlich darüber.

Warum hast du davon erzählt?

Anfangs konnte ich es nur so erzählen, als hätte ich es bereits souverän verarbeitet. Selbstdarstellung war das, doch die bot immerhin Gelegenheit, überhaupt darüber zu reden. Das wurde, als ich wiederholt in Krisen geriet, abgelöst von dem Drang, die Schuld richtig zuzuordnen. Das tat gut! Der Durchbruch kam für mich erst mit #metoo, als persönliche Krise, eine erhoffte Vertrauensperson, ein Forum und ein ermutigendes gesellschaftliches Klima zusammenkamen.

Wie war die Reaktion auf die Geschichten?

Es geschah erst lange gar nichts, nicht mal in der ersten Therapie.

Die Reaktionen nach 2017 waren dann positiv. Manche waren enttäuscht, dass ich lange geschwiegen hatte: „Damit hast Du Dir selbst geschadet“. Schon recht – aber „selbst geschadet“? Nicht ich habe die Bedingungen des Schweigens gewählt, die gehören zur Tat wie zur Situation.

Was hättest du dir rückblickend gewünscht? Vom VCP und den Menschen, die etwas geahnt haben müssen?

Ich hätte mir gewünscht, man wäre dem Täter schon vorher in den Arm gefallen. Stirnrunzeln wird es doch gegeben haben! Es hätte größere Foren geben sollen, Veranstaltungen, in denen offen über sexualisierte Gewalt gesprochen wird. Am Rande derer hätten sich Jugendliche wahrscheinlich vertrauten Personen anvertraut.

Was ist dein Wunsch/dein Appell an andere die ein solches schlechtes Geheimnis haben? Oder von einem solchen Geheimnis wissen?

Belastet Euch nicht mit Schuld-­ und Schamgefühlen, werft die auf den Tä­ter! Geschlechterrollen ändern sich, und auch Jungs müssen nicht dahin, wo Mädchen längst nicht mehr sein wollen: Sich als Opfer zu verstehen, wenn jemand anderes Scheiße gebaut hat. Was wir brauchen, ist ein Klima für Aufdeckung und Hilfe.

Harald Wiester

 

 

 

 

 

Harald Wiester bietet Betroffenen aus dem VCP an, mit ihm in Kontakt zu kommen und sich ggf. zu vernetzen: betroffenenaustausch-vcp@web.de

Unterstützung für Betroffene und Angehörige gibt es auch bei www.hilfeportal-missbrauch.de

 

Wendet euch an Vertrauenspersonen

Auch hier habt einen Übergriff erlebt oder beobachtet? Dann wendet euch an eine unserer Vertrauenspersonen oder an die Präventionsbeauftragte Esther Koch esther.koch@vcp.de.

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