Heimat Bahnhof?

von Andreas Witt

Haben heimatlose Menschen eine Heimat? Warum konzentrieren sich in unseren Großstädten viele Obdachlose rund um die großen Bahnhöfe? Ist der Hauptbahnhof vielleicht so etwas wie eine Heimat für Obdachlose? Mit diesen Fragen im Gepäck bin ich zur Bahnhofsmission am Hamburger Hauptbahnhof gefahren und habe dort Klaas Klaffke interviewt. Klaas ist 18 Jahre alt und arbeitet seit circa 4 Monaten im Rahmen des Bundesfreiwilligendienstes bei der Bahnhofsmission. Die Bahnhofmission am Hamburger Hauptbahnhof ist seit März 2018 wegen Umbaumaßnahmen in mehreren blauen Containern untergebracht. Sie ist Tag und Nacht geöffnet – auch während der gesamten Corona-Krise. Neben den hauptamtlichen Mitarbeiter*innen engagieren sich über 90 Menschen ehrenamtlich in der Bahnhofsmission am Hamburger Hauptbahnhof, die es hier seit 125 Jahren gibt.

Heimathafen – Heimatstadt – Heimatbahnhof! Passt der Begriff Heimat zum Hamburger Hauptbahnhof?

Für mich persönlich ist es ein Teil meiner Heimat, auf jeden Fall. Wenn man länger weg ist, ist der Hauptbahnhof das erste Stück Heimat, das man sieht. Man kommt hier mit der Bahn an. Und auch für viele Leute, die keine Heimat haben, keinen festen Wohnsitz, ist das hier der Bereich, wo sie sich aufhalten – wo viele soziale Einrichtungen in der Nähe sind. Für viele, die sonst eher heimatlos sind, ist der Hauptbahnhof einfach ein Stück Heimat, würde ich sagen.

Kann man sagen, dass der Hauptbahnhof eine gewisse Anziehungskraft für Menschen ohne Heimat besitzt?

Gerade Leute, die ursprünglich nicht aus Hamburg kommen, landen hier an. Der Hauptbahnhof ist das erste, was sie in Hamburg sehen. Schnell wird der Hauptbahnhof dann zum vertrautesten Ort. In der sogenannten Flüchtlingskrise hat man das auch gesehen, dass die Flüchtlinge, die hier angekommen sind, häufig auch hier geblieben sind. Denn diesen Ort kannten sie dann schon Ich glaube, dass die vielen sozialen Einrichtungen deswegen hier sind, weil die Menschen hier sind – und nicht andersherum.

Welche Rolle spielt die Bahnhofsmission für dieses ‚Vertrautsein des Ankommens‘ – in dem Geflecht der sozialen Einrichtungen?

Im Geflecht der sozialen Einrichtungen ist die Bahnhofsmission der beständigste Teil: Wir sind 24/7 auf – jeden Tag, jede Nacht. Wir sind eine der wenigen Einrichtungen, die nachts geöffnet sind. Und es gibt die Bahnhofsmission schon seit 125 Jahren! Dadurch bieten wir Kontinuität und Sicherheit für unsere Gäste. Sie wissen, hier können sie immer mit jemandem reden. Wir versuchen dann die Menschen in das Geflecht der sozialen Einrichtungen zu integrieren. Viele Menschen werden auch zu uns geschickt mit den Worten: „Gehen Sie mal zur Bahnhofsmission, die können Ihnen auf jeden Fall helfen!“ Wir sind sozusagen für viele der Dreh-und Angelpunkt der sozialen Einrichtungen hier am Bahnhof. Denn wir helfen unkompliziert, schnell und unbürokratisch.

Wer sind denn die Gäste, die zur Bahnhofsmission kommen?

Sehr unterschiedlich. Wir versuchen allen zu helfen, die hierherkommen. Egal ob wohnungslos, arm, reich, alt, jung – wir versuchen allen zu helfen bei den Problemen, mit denen sie hierherkommen. Bedingt durch die Lage mitten in der Stadt Hamburg sind es viele Wohnungslose. Aber wir helfen auch Menschen mit Einschränkungen, zum Beispiel beim Umsteigen. Oder es gibt an vielen Bahnhofsmissionen auf acht Strecken das Programm „kids on tour“, wo Kinder, die allein in eine andere Stadt reisen, von Mitarbeiter*innen der Bahnhofsmission begleitet werden. Dies sind meistens Scheidungskinder. Aber es kommen auch oft Leute, die unsere Sprache nicht so gut sprechen und Probleme beim Amt haben, hierher – und wir helfen ihnen. Behördendeutsch ist ja oft nicht einfach zu verstehen. Man kann es also gar nicht so pauschal sagen, wer unsere Gäste sind.

Zu meiner Schulzeit war das Buch „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ ein Bestseller. Welche Rolle spielt die Drogenszene im Augenblick?

Die Drogenszene spielt immer eine Rolle. Doch nach meiner Empfindung ist das hier direkt am Hauptbahnhof gar nicht so krass, sondern die Drogenszene ist eher im Schanzenviertel. Aber wir haben hier auf der anderen Seite des Hauptbahnhofs das „Drob-Inn“, einen Konsumraum. Da sieht man auf der Wiese viele Leute, die Drogen konsumieren. Die Drogenszene spielt definitiv auch in unserer Arbeit eine Rolle – und wir stehen im regen Kontakt mit Einrichtungen, wie dem „Drob-Inn“ oder dem „PARK-IN“ bei Alkoholproblemen.

Die Hamburger Bahnhofsmission ist 125 Jahr alt. Wie hat sich die Arbeit der Bahnhofsmission in diesen Jahren verändert?

Die Bahnhofsmission wurde zur Zeit der Industrialisierung gegründet, als viele Menschen – und vor allem auch junge Mädchen – vom Land in die Stadt gezogen sind, um dort Arbeit zu finden. Viele sind damals in Schlepperbandenringe geraten, die mit Zwangsprostitution und Menschenhandel gearbeitet haben. Da die Kirche nicht direkt am Bahnhof war, um sich um diese Mädchen zu kümmern, haben einige engagierte Christen damals etwas Revolutionäres gesagt: Die Mädchen müssen nicht zu uns in die Kirche kommen, sondern wir kommen zu denen! Daraufhin wurden die ersten Bahnhofmissionen in Berlin und Hamburg gegründet. Über die Zeit von 125 Jahren hat sich natürlich die Arbeit der Bahnhofmission geändert: Zur Zeit der Weltwirtschaftskrise in den 1920ger Jahren ging es darum, die Menschen zu unterstützen, die plötzlich keine Arbeit mehr hatten. Oder: In der Wendezeit sind viele Menschen aus der ehemaligen DDR gekommen, etwas später in den 1990ger Jahren kamen viele Flüchtlinge aus dem Balkan-Krieg, ebenso 2015 sehr viele Transit-Flüchtlinge an den Bahnhöfen an. Die Krisen, die in der Welt oder in Deutschland passieren, spiegeln sich im Bahnhof wider.

Ich habe irgendwo gelesen, die Geschichte der Bahnhofsmission sei ein Spiegel der Sozialgeschichte.

Ja, das kann man so sagen!

Du hast gesagt, Menschen sind damals aus christlicher Motivation auf den Bahnhof gegangen. Im VCP gibt es immer mal wieder Diskussionen über das „C“ im VCP. Was ist der christliche Kern in der Arbeit der Bahnhofsmission?

Für mich persönlich ist es die uneingeschränkte Nächstenliebe: Wir helfen hier jedem, und da ist es egal, welche Religion die Menschen haben. Wir versuchen jeder Person, die hier herkommt, zu helfen und für jeden da zu sein. Dies bedeutet für mich christliche Nächstenliebe: Uneingeschränkte und bedingungslose Hilfe!

Was hat Dich persönlich motiviert, Dich hier bei der Bahnhofsmission als BUFDI zu bewerben?

Ich hatte tatsächlich schon von der Bahnhofsmission gehört. Meistens im Pfadfinderkontext, dass Leute erzählt haben, dass sie irgendwo gestrandet sind und die Bahnhofsmission in dieser Stadt geholfen hat. Aber es war mir nicht präsent, dass man hier einen BFD machen kann. Ich wollte nach der Schule BFD oder FSJ machen, war aber nicht so motiviert in Schulen oder Kindergärten zu gehen, denn ich hatte schon während verschiedener Praktika oder im ehrenamtlichen Bereich mit Kindern und Jugendlichen gearbeitet. Ich wollte irgendetwas anderes machen und habe mich einfach bei der Diakonie beworben. Die Leute von der Diakonie haben mir die Bahnhofmission vorgeschlagen. Ich habe mir das angeguckt und war sofort begeistert, weil es eine sehr abwechslungsreiche Arbeit ist – und eine Arbeit mit ganz anderen Aspekten, die ich vorher noch gar nicht kannte. Jeden Tag mache ich hier etwas Neues. Ich bin jetzt seit über vier Monaten hier und lerne jeden Tag etwas Neues. Es kommt immer eine Situation, die du noch nicht hattest.

Jede Begegnung ist neu! Das reizt mich!

Gab es ein besonders prägendes Erlebnis in diesen vier Monaten?

Ich finde es immer schön, wenn wir Leuten nachhaltig helfen können. Das freut mich immer. Die Bahnhofsmission in Hamburg gehört zur Stadtmission, die ja inzwischen „Hoffnungsorte“ heißt. Hierzu gehört auch eine Unterkunft für Obdachlose, die wirklich sehr schön und auch sehr ruhig gelegen ist – etwas ganz anderes als die Massenunterkünfte. Jedes Mal, wenn ich jemanden dorthin vermitteln kann und es alles klappt – und, wenn der Betroffene nach ein oder zwei Wochen dort, dann eine neue Arbeit gefunden hat – vielleicht auch, weil wir ihm bei einer Bewerbung oder in einem Beratungsgespräch geholfen haben – wenn ich so etwas mitbekomme, dann finde ich es immer wieder schön, wenn man merkt, dass wir nicht nur für den Moment geholfen haben, sondern langfristig. Eine bestimmte Situation wüsste ich jetzt aber gar nicht.

Du siehst wahrscheinlich durch deine Arbeit den Hauptbahnhof mit anderen Augen!

Auf jeden Fall! Früher bin ich dort angekommen und habe mich gefreut, dass ich wieder zu Hause bin. Ich habe mich aber nie viel damit befasst, was hier sonst noch los ist. Als ich dann hier angefangen habe, haben wir als erstes eine Führung gemacht, bei der uns gezeigt wurde, worauf wir achten müssen, wenn wir durch den Hauptbahnhof laufen. Das ist tatsächlich ein ganz anderer Blick inzwischen!

Ich habe einmal im Rahmen der „Nacht der Kirchen“ eine Führung über den Hauptbahnhof mit der Bahnhofmission mitgemacht. Das war sehr spannend! Hast Du hier am Hauptbahnhof einen Lieblingsplatz?

Ich mag sehr gerne den Balkon in der Wandelhalle auf der höheren Ebene, weil man dort über alle Gleise gucken kann und man sieht, auf welchen Gleisen etwas los ist. Man hat hier den Überblick über alles – und es ist einfach ein sehr schöner Blick über den Hauptbahnhof. Außerdem ist es ruhig da oben, denn dort sind auch nicht so viele Leute. Wenn ich eine Runde durch den Bahnhof mache, gehe ich dort meistens als letztes hin und komme dort ein bisschen runter und schaue, ob ich noch etwas sehe, wo ich vielleicht doch noch mal hingehen sollte.

Wir haben das Interview begonnen mit dem Begriff Heimat. Empfindest Du, wenn Du dort oben stehst, gewisse Heimatgefühle für den Hauptbahnhof?

Ja, ich glaube schon, und es ist auch mehr geworden in den letzten Monaten. Hier bin ich jetzt fast jeden Tag, denn der Bahnhof ist meine Arbeit geworden – und das hat auch irgendetwas mit Heimat zu tun. Es ist natürlich das, was ich am Anfang schon meinte: Der Bahnhof ist das erste Stück Heimat, wenn man nach Hause kommt – wenn man mit der Bahn fährt. Aber er ist auch Heimat für mich, weil ich mich inzwischen hier heimisch fühle. Ich kenne mich jetzt hier sehr gut aus, und der Bahnhof ist ein wichtiger Teil von mir geworden.

Vielen Dank für das Interview!

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