Jahreslosungen 2023 „Du bist ein Gott, der mich sieht.“ (Genesis 16,13)

von Oliver J. Mahn

Wenn ich mit der Bahn in die Stadt fahre, begegne ich unzähligen Menschen. Gerne beobachte ich sie. Und genauso gerne scheinen sie mich zu beobachten. Das fängt schon vor meiner Haustür an. Im Haus gegenüber schaut eine ältere Dame aus dem Fenster – ob da unten auch alles mit rechten Dingen zugeht. Manchmal treffen sich unsere Blicke. Ich lächele ihr zu. Schnell verschwindet sie dann hinter ihrem Vorhang. In der Bahn treffen sich meine Blicke mit denen der anderen Reisenden. Meist schaut man dann ja schnell wieder weg. Seltener kommt man in Kontakt, beginnt ein Gespräch. Je nachdem. Es gibt da noch sie – die anderen Augen. Sie verfolgen mich von der Haustür bis zur Arbeit. Zwölf Augen, um genau zu sein. Eines Morgens habe ich sie gezählt. Auf meinem Weg in die Stadt begegne ich mindestens zwölf Überwachungskameras – am Bahnhof, in der Bahn, am Büdchen an der Ecke, wo ich manchmal noch einen Kaffee kaufe, und am Einfamilienhaus eines Nachbarn. Ob der wohl eine Genehmigung dafür hat? Ich möchte ja nicht immer und überall gefilmt werden. Als Kind habe ich oft den Satz gehört: Der liebe Gott sieht alles.“ Das habe ich damals schon für eine schreckliche Vorstellung gehalten. Wie kann ein Gott, der mich ständig beobachtet, lieb sein? Ein solcher Gott macht mir Angst. Und genau das ist wohl die Idee hinter diesem Satz: Kindern Angst machen. Heute glaube ich: Gott ist kein Angstmacher. „Du bist ein Gott, der mich sieht“, heißt es im ersten Buch der Bibel. Gott beobachtet mich nicht. Er sieht mich an und erkennt mich. Vielleicht nur um zu sehen, ob alles mit rechten Dingen zugeht. Ob es mir gut geht. Er ist einfach da für mich. Mit diesem Wissen, oder besser in diesem Glauben, kann ich auch ihm einfach mal zulächeln.

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