Der Judaskuss: Symbol für Verrat

von Andreas Witt, Hamburg

Ein Kuss verbindet durch die körperliche Nähe zwei Menschen miteinander und ist ein Symbol bzw. eine Geste der Liebe, Freundschaft und Zuneigung. Doch schon das Alte Testament weiß: „Die Küsse des Hassers sind trügerisch.“ (Sprüche 27, 6b)

Der Judaskuss gilt als Symbol des Verrates. Nach biblischer Überlieferung war ein Kuss das verabredete Zeichen, mit dem Judas Jesus im Garten Gethsemane für seine Gegner zur Gefangennahme identifizierte (Mt 26,48 par.). Dabei bedeutet das griechische Verb „para-didomi“, das die Evangelisten hier verwenden, eigentlich nur „übergeben“. Luther übersetzte es mit „überantworten“ und erst modernere Bibelübersetzungen mit „verraten“. War der Kuss des Judas aber nun wirklich ein gemeiner Verrat? Darüber wird in der Theologie gestritten. Doch: Wer war Judas? Und was war die Motivation für sein Handeln?

War Judas Verräter oder Kämpfer?

Judas gehörte nach biblischer Überlieferung zum Kreis der zwölf Jünger Jesu, er zählte also zu den engsten Vertrauten Jesu. Sein Name Judas Iskariot (hebr.: „isch Kariot“) bedeutet wahrscheinlich „Judas, Mann aus Kariot“ – allerdings weiß man heute nicht, wo dieser Ort „Kariot“ lag. Eine andere Namensdeutung erklärt den Namenszusatz „Iskariot“ als eine Verballhornung des Wortes „Sicarios“. Die Sikarier, die sogenannten „Dolchmänner“, waren der radikale Flügel der Zeloten: jüdische Freiheitskämpfer, die mit Waffengewalt gegen die römische Fremdherrschaft kämpften. War Judas solch ein „Dolchmann“, der über die friedfertige Botschaft Jesu enttäuscht war? Oder wollte er als „Dolchmann“ seinen „Chef“ Jesus durch die Verhaftung provozieren, sich endlich als Messias öffentlich zu outen und seine gesamte messianische Macht zu offenbaren, um damit den bewaffneten Kampf gegen die Römer zu starten?

Die einzelnen Evangelien berichten Unterschiedliches und Widersprüchliches über Judas: Im Markus-Evangelium, das vermutlich vor 70 n. Chr. aufgeschrieben wurde und damit als ältestes Evangelium gilt, heißt es relativ neutral: „Und Judas Iskariot, einer von den Zwölfen, ging hin zu den Hohepriestern, dass er ihn an sie verriete. Als die das hörten, wurden sie froh und versprachen, ihm Geld zu geben.“ (Mk 14, 10-11a) Das Geld als Lohn für den Verrat wird also hier Judas angeboten, während im etwas jüngeren Matthäus-Evangelium (Entstehungszeit vermutlich zwischen 80 und 90 n. Chr.), Judas die Hohepriester fragt: „Was wollt ihr mir geben? Ich will ihn Euch verraten!“ (Mt 26, 15a). Schnöde Habgier als Motiv für den Verrat?

Das zwischen 85 und 90 n. Chr. datierte Lukas-Evangelium bietet noch eine andere Erklärung: „Es fuhr aber der Satan in Judas, genannt Iskariot, der zur Zahl der Zwölf gehörte. Und er ging und redete mit den Hohenpriestern und den Hauptleuten darüber, wie er ihn an sie verraten könnte.“ Auch bei der Schilderung des Todes von Judas am Anfang der Apostelgeschichte verdeutlich Lukas durch ein Horrorszenario, dass Judas vom Teufel besessen war: „Aber er (=Judas) ist vornüber gestürzt und mitten entzwei geborsten, so dass seine Eingeweide hervorquollen.“ (Apg. 1, 18b) Ganz im Gegensatz zum Matthäus-Evangelium: Denn nach Matthäus beging Judas aus Reue Selbstmord, indem er sich erhängte. (Mt 27, 3 – 5). Und im Markus-Evangelium fehlen jedwede Informationen zum Tod des Judas.

Judas als Symbol für das Böse

Das Johannes-Evangelium wurde vermutlich zwischen 100 und 110 n. Chr. verfasst und stellt somit das jüngste der vier biblischen Evangelien dar. Der Evangelist Johannes charakterisiert Judas als einen Ungläubigen (Joh. 6,64), einen Teufel (Joh. 6,70) und einen Dieb, der sich etwas aus dem Geldbeutel der Zwölf, den er verwahrte, genommen hatte (Joh. 12,6).

Es lässt sich also bei der Darstellung des Judas folgende Tendenz erkennen: Je später ein Evangelium geschrieben wurde, desto böser und gemeiner wird der Jünger Judas beschrieben und spätestens im Johannes-Evangelium ist Judas somit der Prototyp eines bösen, habgierigen, jüdischen Verräters. Dieses Negativ-Bild lässt sich mit der Verfolgungssituation der ersten christlichen Gemeinden erklären: Weil die ersten christlichen Gemeinden von der jüdischen Obrigkeit verfolgt wurden, machten diese zunehmend eben diese jüdische Obrigkeit für die Kreuzigung Jesu verantwortlich – allen voran Judas als „jüdischen Teufel“. Somit wurde der Verrat des Judas auch zu einer Wurzel des Antisemitismus, der schließlich im millionenfachen Mord an Juden im nationalsozialistischen Deutschland gipfelte. Doch Achtung: Jesus und seine Jünger waren ebenso Juden wie Judas!

Trotzdem gilt der Name Judas als Inbegriff für Verrat und ist zum Schimpf- und Schmähwort geworden. Deswegen wird Judas als männlicher Vorname auch von deutschen Standesämtern abgelehnt.

Welcher Jünger war ein Held?

Ein ganz anderes Judas-Bild entwirft nun das apokryphe Judasevangelium. Es wurde vermutlich um 150 n. Chr. in koptischer Sprache geschrieben und wegen seines vermeintlich ketzerischen Inhalts von der alten Kirche abgelehnt. Erst im späten 20 Jahrhundert fand man in Ägypten eine schlecht erhaltene Handschrift dieser apokryphen Schrift. Eine kleine Sensation! Seit 2006 liegt eine Übersetzung des mühevoll restaurierten, aber unvollständigen Textes vor. Hier wird Judas als engster Vertrauter Jesu dargestellt, der durch seine Tat den Heilsplan Gottes erfüllt: Judas – ein Held Gottes! Kein Wunder, dass diese komplett andere Darstellung des Judas von der alten Kirche verworfen wurde.

Insgesamt lässt nun die biblische und außerbiblische Überlieferung zum Jünger Judas viele Fragen offen und bietet daher viel Raum für Deutungen und Spekulationen: Hat Judas Jesus gemein „verraten“ oder nur „übergeben“ und somit Gottes Heilsplan erfüllt? Die Antwort auf diese Frage mag vielleicht in einer Gegenfrage liegen: Wie reagierte Jesus auf das Verhalten des Judas? Nach biblischer Überlieferung war Jesus, obwohl er genau wusste, dass Judas ihn verraten würde, offensichtlich nicht zornig oder verärgert.

Nichts desto trotz gilt der Judaskuss als Symbol für einen gemeinen Verrat. Doch sollte man nicht vergessen, dass der Jünger Petrus Jesus nach seiner Verhaftung dreimal verleugnet hat. Auch ein ziemlich gemeines Verhalten, das Petrus kurz darauf bitterlich beweinte (Mt 26, 69 -75 par.). Dabei verhielten sich die anderen Jünger offensichtlich auch nicht besser. Sie liefen bei Jesu Gefangennahme einfach davon (Mt 26, 56 par.).

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