Heimat im Digitalen

Heimat im DigitalenFoto: Heimat im Digitalen Illustration: Miriam Lochner

von Rebecca Haugwitz und Patrick Franz

Im Zuge des Brainstormings für die Themen dieser Ausgabe der anp fiel ziemlich früh der Begriff „digitale Heimat“. Denn auch, wenn es uns Pfadfinder*innen eher nach draußen in die Natur zieht, ist die Digitalisierung aus unserem Leben kaum noch wegzudenken. Dank der rasanten Entwicklung der Technik in den letzten Jahrzehnten hat sich unsere Lebenswirklichkeit seit den 80ern, als die ersten mobilen Telefone auf den Markt kamen und das Internet erfunden wurde, sehr stark verändert. Mittlerweile hat fast jeder Mensch ein extrem leistungsstarkes Smartphone, mit dessen Hilfe Kommunikation jederzeit überallhin möglich ist. Fakten sind rund um die Uhr abrufbar und alles Mögliche kann in Bild, Ton und Schrift festgehalten werden.

Für einen großen Teil der Menschheit ist das alles selbstverständlich: „Digital natives“ sind mit all diesen Möglichkeiten aufgewachsen und können es sich gar nicht anders vorstellen; „digital immigrants“ finden sich mittlerweile auch sehr gut in der Onlinewelt zurecht und haben sich daran gewöhnt. So hat sich auch mit der Zeit die Bedeutung des Heimatbegriffs (siehe Seite 8 dieser Ausgabe) um eine weitere, digitale Komponente erweitert. Vor allem die sozialen Netzwerke haben viel dazu beigetragen, denn sie sind es, die uns eine Heimat in der digitalen Welt bieten können. 2020 haben laut Statista 3,81 Milliarden Menschen ein Social-Media­-Profil, Tendenz steigend.

Die Personen und Themen, mit denen wir uns online beschäftigen, gehören mittlerweile ebenso zu unserem Heimatgefühl wie unsere Familie und Freund*innen in der realen Welt. Diese Entwicklung bietet sowohl Chancen als auch Risiken; darum soll es in diesem Artikel gehen.

Vorteile der digitalen Welt

Positiv ist auf jeden Fall, dass Informationen rund um die Uhr im Internet verfügbar sind. Dadurch sind Fakten direkt abrufbar, wenn sie gebraucht werden, und wir sind weitestgehend sehr frei in der Planung unseres Tagesablaufes, zumindest was die Informationsbeschaffung angeht. Früher musste man sich an Öffnungszeiten von Bibliotheken und an Sendezeiten von Nachrichtensendungen im Rundfunk halten, heute kann man auch um drei Uhr nachts noch einen Text für die Uni herunterladen und nebenbei die aktuellen Schlagzeilen recherchieren.

Was auch dank des Internets viel unkomplizierter und schneller geht als zuvor, ist das Kommunizieren mit Freund*innen und Familie. Muss man zum Beispiel ganz dringend jemanden daheim erreichen, da man gerade im Supermarkt steht und die Einkaufsliste vergessen hat, schreibt man einfach fix in die Familiengruppe und hat innerhalb kürzester Zeit eine Antwort. Auch gerade jetzt in der Pandemie sind Messenger Gold wert, denn sie ermöglichen es uns, auch ohne direkten Kontakt mit unseren Liebsten in Verbindung zu bleiben.

Und last but not least hat wirklich jede*r die Möglichkeit, sein digitales Zuhause ganz genau nach den eigenen Vorlieben und Wünschen einzurichten. Jede*r bestimmt selbst, wem sie*er folgen möchte und mit wem sie*er in Kontakt tritt. So kann man sich einen sicheren Hafen aufbauen, in dem man Inspiration, Motivation und einen Ruhepol finden kann.

Immer online – Sucht und Stress?

Aber wo liegen die Nachteile in der digitalen Welt, in der wir mittlerweile zuhause sind? Das Ganze kann zu einer echten Sucht werden, vergleichbar mit Alkohol­, Drogen­ oder Spielsucht. Mainzer Forscher haben herausgefunden, dass mehr als zwei Prozent der Jugendlichen soziale Netzwerke und Computerspiele suchtartig-­exzessiv, nämlich rund sieben Stunden täglich, nutzen. 15 Prozent gelten als gefährdet. Sie vernachlässigen Hobbys, Freund*innen und Hausaufgaben. Eine andere Studie kam zu dem Ergebnis, dass uns das ständige „Immer erreichbar sein-„­Gefühl“ in echten Stress versetzen kann. Die Studie zum Thema „Jugendliche im digitalen Zeitstress“ des Instituts für Jugendkulturforschung zeigt auf, dass 60 Prozent der Jugendlichen erwarten, dass sie auf Nachrichten in WhatsApp, Instagram & Co. sofort oder zumindest innerhalb weniger Minuten eine Antwort erhalten. Gleichzeitig zählt diese Erwartungshaltung auch für sie selbst zu den größten Stressfaktoren. Gruppen in sozialen Netzwerken, in denen manchmal hunderte Nachrichten täglich ausgetauscht werden, verstärken diesen Stress. Gerade für die Jüngeren ist es oft nicht einfach, sich dem Gruppendruck zu entziehen. Sie fürchten soziale Nachteile und Ausgrenzung.

Abschalten können

Nur was tun gegen diesen Stress? Eine Art Diät auf Zeit von diesen vielen Reizen scheint die Lösung zu sein. Vor allem unter den älteren Jugendlichen gibt es mittlerweile erste Vorreiter*innen gegen den digitalen Zeitstress. So geben 28 Prozent der Befragten an, schon einmal einen „digital Detox“ gemacht, also eine Zeit lang bewusst auf Handy und Computer verzichtet zu haben. „Ich will mich nicht mehr unter Druck fühlen, ständig sofort reagieren zu müssen“, beschreibt eine Teilnehmerin der Studie (16 Jahre) ihre Motivation.

Zu den praktischen Tipps der Jugendlichen gegen Online-­Stress zählen etwa Benachrichtigungen zu deaktivieren, immer wieder den Flugmodus einzuschalten, häufig genutzte Apps vom Startbildschirm zu verbannen und nach hinten zu verschieben und sich in bestimmten Alltagssituationen vorzunehmen, das Handy in der Tasche zu lassen.

Warum nicht auch mal beim Warten auf den Bus das Handy in der Tasche lassen und „nur“ Musik hören?

Was ist denn das Fazit der digitalen Heimat? Ein perfektes Zuhause? Oder hängt der Haussegen doch ein wenig schief? Ein Patentrezept wird man hier wohl nicht ausstellen können, aber die Vorteile, die sich ergeben, sind immens hoch. Warum also nicht nutzen, was da ist und was noch kommt … aber sein echtes Offline-Leben nicht ganz vergessen.

Quellen zu den Studien:

https://www.unimedizin-mainz.de/fileadmin/kliniken/verhalten/Dokumente/EU_NET_ADB_Broschuere_final.pdf

https://www.saferinternet.at/news­detail/immer­mehr­jugendlicheim­digitalen­zeitstress/

 

Pfadfinden digital Foto Andreas Kläger
Foto: Andreas Kläger

Interview mit Dr. Klaus Wölfling von der Universitätsklinik Mainz und Mittelalterwoche 2021

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