von Bernd Eichhorn
Spannend ist die Arbeit in unserem Bundesarchiv sowieso, da es mit jeder Kiste, die geöffnet wird, etwas Neues zu entdecken gibt. Was mich auch freut, sind Neuzugänge, von denen es in den letzten Monaten einige gab:
Ende August hatte ich bei Gisela Bögershausen einen Rest an Unterlagen der EMP abgeholt. Bereits seit den 1970er Jahren kümmerte sich Gisela Bögershausen um die Geschichte der EMP und sortierte bereits alle EMP-Akten, von denen die meisten auch schon hier im Archiv liegen.
Eine Wocher später kamen dann Hannes Weber und Karl Wagner mit einem Bus voller Unterlagen von CP- und VCP-Württemberg – ebenfalls vorsortiert und die Woche drauf klingelte Therese Zimkowsky mit 12 Umzugskisten voller Unterlagen aus dem Büro von Hans-Jürgen Poppek, der 2000 bis 2012 Bundesvorsitzender war und sich danach und bis zu seinem Tod um den BZG kümmerte. Letzte Woche bekam ich noch einige Kisten aus dem Landesbüro Schleswig-Holstein, wo ich noch gar keine Zeit hatte, reinzuschauen.
Besonders gefreut habe ich mich aber über zwei kleine Päckchen, die hier ankamen: Die Witwe Jobst Bessers (Bundesführer CPD 1961 bis 1968), die auch die Tochter Heinrich Karschs ist (Bundeskanzler CPD 1935, Bundesführer CPD 1951 bis 1961) schenkte dem Archiv Trachtenhemden, Halstücher, Halstuchringe, Namensstempel und Fotos aus dem Pfadfinderleben von Heinrich Karsch und Jobst Besser, zusammen mit einer schönen Anekdote um den Halstuchring aus Messing mit der Gravur ROGATE (lat. „bittet“ sowie der Name des fünften Sonntags nach Ostern). Der wurde zum zweiten Bundeslager der CPD 1950 auf dem Kollenberg/Knüll ausgegeben. Das Messingrohr, aus dem die Ringe ausgesägt wurden, war Teil des Kamins des Hauses der Familie Karsch und wurde für die Ringe gestiftet, da solche Materialien damals noch selten waren.
Im anderen Päckchen dann lagen zwei Fahrtenbücher des CPers Albert Schmiedel, der 2018 verstarb und an den ich mich noch ganz gut erinnere, da die Schmiedels Freunde meiner Eltern waren.
Fahrtenbücher, als kleine Reiseberichte, finde ich sowieso sehr spannend, da sie von Fahrten subjektiv aus Sicht der bzw. des Schreibenden erzählen und die Pfadfinderei lebt nun einmal von ihren Mitgliedern und dem, was diese erfahren und erleben und auch weitergeben.
Im ersten Fahrtenbuch „Fahrtenbuch I. 1945-1946“ beschreibt Albert die womöglich erste dokumentierte Fahrt einer Pfadfindergruppe nach dem Zweiten Weltkrieg, im Juli 1945. Das war eine kleine Wochenendausfahrt mit dem Rad um Wuppertal und ich denke, es spricht nichts dagegen, sie hier abzudrucken. Heinrich Karsch war übrigens auch mit von der Partie und leider konnten wir einen der genannten Namen nicht entziffern. Schreibweisen und Interpunktion habe ich beibehalten.
28.-29. Juli 1945. Erste Wochenendfreizeit in Wf.-Beyenburg-Obersondern
Sonnabend, den 28.7.45
18:00
Die Jungensrunde im Heim ist beendet. Heinrich Karsch, Gerd [unleserlich] und Friedel Grohejohann u. ich sehen noch einmal die Räder nach, befestigen unser Gepäck u. radeln los nach Beyenburg, zur ersten Wochenendfreizeit nach dem Zusammenbruch Nazideutschlands, zum ersten mal seit 12 Jahren ohne Gestapoaufsicht. Pastor Posth hat für 20 Jungen bei dem Bauern Schiemann in Beyenburg-Obersondern Unterkunft bekommen. Schlafen sollen wir im Heu, und einen Teil der Verpflegung bekommen wir von dem Bauern. Die Jungen sind zum größten Teil vom B.Kr. [Bergischen Kreis] und nur einige aus unserem Kreis. Sie sind alle schon kurz nach Mittag losgegangen, nur wir vier wollten nachkommen. Aber es sollte eine Fahrt mit Hindernissen werden. Schon an der Wichlingshauserstr.-Schule hatte Heinrich einen Platten, den Gerd schnell flickte. Dann ging es weiter. Wir kamen auch ganz gut bis in die Nähe von Obersondern. Aber plötzlich ging ein wolkenbruchartiger Regen nieder. An einer Gastwirtschaft stellten wir uns unter und fingen mächtig an zu futtern, denn nach unserer Meinung mußten wir noch ein nettes Stück trampeln. Bei Heinrich ging der Kartoffelsalat drauf, bei Gerd der Kuchen, bei Friedel die Brötchen und bei mir eine Tüte Puffreisplätzchen. Aber o Schreck, die vermeintliche lange Trampelei dauerte ganze fünf Minuten, da waren wir schon da und mit Gebrüll wurden wir von den schon Anwesenden unter Pastor Posth begrüßt.
20:00
Abendessen. Wir waren kaum da, als Kartoffelsalat aufgetragen wurde, eine riesige Menge und wunderbar mit Rahm abgeschmeckt, dazu gab es nur Vollmilch, so viel wir wollten. Wir haben uns furchtbar geärgert, daß wir gerade vorher noch gegessen hatten. Es blieb noch reichlich Kartoffelsalat über. Nach dem Abendessen haben wir noch gesungen u. Bibelarbeit getrieben. Wir konnten kaum noch die Augen offen halten, so müde waren wir, als wir ins Heu krochen.
23:00
Heuruhe
Sonntag, den 29.7.45
6:00
Wecken, Frühsport u. Waschen. Ich lasse mir von Gerd einen Eimer voll Wasser über den Körper schütten.
6:30
Morgenwache
7:00
Kaffeetrinken
7:30
Kirchgang nach Beyenburg. Es war furchtbar langweilig, die Orgel spielte furchtbar falsch, der Pfarrer priemte und verschluckte sich einige Male u. 50% schlummerte süß. Die Kirche war unheimlich voll. Das waren erst wir Jungen u. eine Menge von ungefähr 1, 2, 3, 4, 5 anderen Leuten. Wir waren froh, als wir erlöst waren. Posth mußte sich immer die Augenlider festhalten. Anschließend fuhr Heinrich nach Hause, zum Kindergottesdienst u. wir machten die Gegend unsicher. Bei Horst Ries im Garten sangen wir ein wenig; dann machten wir eine Schnitzeljagd. Gerd, Friedel u. ich waren die Gejagten, Pastor Posth führte die Jäger. Um 11 Uhr sausten wir los, 11:10 folgten uns die Jäger, um 11:50 durften wir nicht mehr weiter laufen u. um 12:15 mußten die Jäger uns gefunden haben, sonst hatten wir gewonnen.
Als wir bis 12:15 keinen von den Jägern weder gehört noch gesehen haben, klettern wir auf einen Hochspannungs-Gittermast u. machen uns bemerkbar. Pastor Post behauptete später, es wäre 12:13 gewesen u. wir hätten demnach verloren, aber wir wußten es ja besser.
12:00
Mittagessen. Es gab eine Milchsuppe und dazu aßen wir unsere Butterbrote. Nachdem Heinrich auch wieder eingetroffen war machten wir um
14:00
unsere Bibelarbeit
16:00
Abmarsch von Obersondern, nachdem wir mit einem Lied unseren Dank abgestattet haben.
Nun ging es herunter zum Stausee. Wer nicht Wasserscheu war ging ins eiskalte Wasser u. mit uns Pastor Posth. Die meisten, darunter auch ich, haben danach einen mächtigen Schnupfen bekommen.
Nach dem Baden zogen wir heimwärts, Gerd, Friedel, Hermann Graf (auf Heinrichs Rad) u. ich mit unseren Rädern, während die anderen noch einen Umweg über den Ehrenberg machten.
19:00
zu Hause.