G*TT (w/m/d) – Die Bibel queer lesen

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von Andreas Witt

Josef war 17 Jahre alt und hütete mit seinen Brüdern die Schafe und Ziegen. (…) Israel (=Jakob) liebte Josef mehr als seine anderen Söhne, weil er ihn im hohen Alter bekommen hatte. Deshalb ließ er ihm ein Prinzessinnenkleid machen. (1.Mose 37, 2–3). Josef, ein 17-jähriger junger Mann, trägt ein Prinzessinnenkleid??? Wenn wir versuchen, die Bibel queer zu lesen, sollten wir bei dem hebräischen Begriff „Ketonät Passim“ nicht an ein farbenfrohes, prächtiges, orientalisches Gewand denken, sondern an ein Prinzessinnenkleid, wie es in 2. Samuel 13, 18 beschrieben ist: Tamar hatte an diesem Tag ein langes Kleid an. Damals trugen Prinzessinnen solche Obergewänder. Aus dieser Übersetzung ergeben sich einige queere Fragestellungen zur Josefs Geschichte (vgl. insbesondere 1. Mose 37): Fühlt sich Josef in Wahrheit als Josefine? Hat Jakob als liebender Vater diese Transidentität seines Kindes verstanden und ihm deshalb das Prinzessinnenkleid geschenkt? Ist die Ablehnung dieser Transidentität der Grund dafür, dass seine Brüder Josef sein Prinzessinnenkleid vom Körper reißen, ihn in eine Zisterne werfen und als Sklaven nach Ägypten verkaufen?

Spiegeln die Träume Josefs seine Sonderstellung und seine Transidentität wider? Es gibt viele Blickwinkel, die Bibel zu lesen – und jeder Bibelzugang offenbart neue Deutungsansätze und Erkenntnisse. So hat zum Beispiel die feministische Theologie darauf hingewiesen, das oft vorherrschende männliche Gottesbild (z. B. Gott als Schöpfer und Vater) kritisch zu reflektieren und zu hinterfragen. Hier dockt der queere Bibelzugang an, und sensibilisiert uns dafür, dass G*TT, wenn wir nach dem Geschlecht fragen könnten, das Kreuzchen wohl am ehesten bei divers machen würde. Denn im 2. Schöpfungsbericht wird der Mensch zunächst als ein androgynes Zwitterwesen beschrieben: Aus der Rippe, die er vom Menschen genommen hatte, bildete Gott der HERR eine Frau. Die brachte er zum Menschen. Da sagte der Mensch „Sie ist es! Sie ist von meinem Fleisch und Blut. ‚Frau‘ soll sie heißen ich‚Mann‘. Von mir ist sie genommen, wir gehören zusammen.’“ (1. Mose 2, 22–23) Erst mit der Erschaffung der Frau, werden die Geschlechter weiblich und männlich getrennt. Daraus lässt sich folgern, dass beide Geschlechter ursprünglich in jedem Menschen angelegt sind. Denn auch im 1. Schöpfungsbericht heißt es: „Gott schuf den Menschen nach seinem Bild, als Gottes Ebenbild schuf er ihn, als Mann und Frau schuf er sie.“ (1.
Mose 1, 27)

G*TT vereint in sich beide Geschlechter bzw. alle Geschlechtsidentitäten und übersteigt unsere Geschlechterkategorien.

In ähnlicher Weise schreibt der Apostel Paulus im Neuen Testament: Denn ihr alle habt in der Taufe Christus angezogen. Und durch sie gehört ihr nun zu ihm. Es spielt keine Rolle mehr, ob ihr Juden seid oder Griechen, Sklaven oder freie Menschen, Männer oder Frauen. Denn durch Eure Verbindung mit Christus Jesus seid ihr alle wie ein Mensch geworden. (Galater 3, 27–28)

Eine bemerkenswerte, queere Taufgeschichte wird in der Apostelgeschichte (8, 26–40) erzählt: Philippus tauft einen königlichen Beamten aus Äthiopien, der Eunuch ist. Der Begriff „Eunuch“ bezeichnet im biblischen Kontext einen zeugungsunfähigen Mann. Da nach 5. Mose 23, 2 Männer mit „verletztem Hoden oder Penis“ eigentlich von der Teilnahme am jüdischen Gottesdienst ausgeschlossen waren, lässt sich diese Geschichte der Taufe dieses queeren, königlichen Beamten aus Äthiopien als Aufforderung lesen, queere Menschen nicht auszugrenzen, sondern anzunehmen.

Bei der queeren Bibellektüre lassen sich auch Indizien für homoerotische Beziehungen entdecken, wie z.B. zwischen David und Jonathan (1. Samuel 20, 7) oder zwischen Rut und Naomi (Rut 1,15–18). Doch wie verhält es sich mit den biblischen Verboten homosexueller Beziehungen (z. B. 3. Mose 18, 22)? Diese sollte man – ähnlich wie zahlreiche andere biblische Ge- und Verbote – nicht wortwörtlich verstehen, sondern unter Berücksichtigung des soziokulturellen Kontextes und – nach Luther – von der „Mitte der Schrift“ [d.h. der Kernbotschaft(en) der Bibel] her deuten und auslegen.

Also: Es ist sehr lohnenswert, sich mitder queeren Lesebrille auf biblische Entdeckungsreise zu begeben.

Anmerkung: Die Bibelzitate folgen der Übersetzung der Basis Bibel (Stuttgart 2021), lediglich in 1.Mose 37,3 wurde der Begriff „prächtiges Gewand“ durch das Wort „Prinzessinnenkleid“ ersetzt.

Buchtipp

Klaus-Peter Lüdke, Queer mit G*tt – Bibel und Glaube unter dem Regenbogen, Manuela Kinzel Verlag 2021
Foto: Manuela Kinzel Verlag

Klaus-Peter Lüdke, Queer mit G*tt Bibel und Glaube unter dem Regenbogen Manuela Kinzel Verlag 2021
Diese kleinen Büchlein (138 Seiten) ist gut lesbar geschrieben und gibt in 27 relativ kurzen Kapiteln interessante Informationen und spannende Impulse zur queeren Bibellektüre. Die Gebetstexte am Ende jeden Kapitels machen das Büchlein auch für Andachten oder Gottesdienste einsetzbar. Dieses Buch diente auch als Grundlage für diesen Artikel.

Interview mit dem Autor: https://www.vcp.de/pfadfinden/auf-neuem-pfad/jesus-liebt-dich-queer

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