Sehnsucht nach Stille

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Draußen knattern die Autos, über den Kopf hinweg donnert ein Düsenjet und im Kaufhaus dudelt die Weihnachtsliederhitparade. Wie gut, dass man sich bei einer heißen Tasse Tee auf der Couch zurückziehen kann – wären da nicht die Stöckelschuhe der Nachbarin, die auf dem Parkett der Wohnung nebenan durch die Wände klackern.

Jeder Fünfte in Deutschland klagt über die Folgen der Lärmbelastung: Schlafstörungen, Müdigkeit, mangelnde Konzentration bis hin zu Herzrasen und Schlaganfall.

Die Augen kann man schließen, die Nase zuhalten. Doch die Ohren sind ein Leben lang im Dauereinsatz – rund um die Uhr, sieben Tage die Woche.
Das ist gut so, den ohne ihre Bereitschaft wird man nicht nur morgens zuverlässig geweckt, sondern auch vor möglichen Gefahren gewarnt. Nicht nur unsere Vorvorvorfahren profitierten vom akustischen Zeitvorteil, auch heute wird die Gefahr viel früher wahrgenommen als man sie mit den Augen lokalisiert.
Übrigens: das Wort Lärm leitet aus dem Italienischen „al armes“ – „zu den Waffen!“ ab.

Der Kampf gegen den Lärm ist keine einfache Angelegenheit. Wann beginnt der Lärm?

Eine Maßeinheit hierzu ist der Schalldruck, der in Dezibel (dB) gemessen wird. Die Skala beginnt mit der Hörschwelle (0 dB) und endet theoretisch bei 194 dB. Mehr Schalldruck kann die Luft bei normalen Bedingungen nicht aufnehmen.

Im Gegensatz zur Celsius-Skala ist die Dezibelskala nicht linear, sondern logarithmisch. Folglich sind 20 dB nicht doppelt so laut wie 10 dB. Eine Verdopplung wird schon mit 3 dB erreicht!

Die Weltgesundheitsorganisation WHO empfiehlt tagsüber maximal 55 dB, nachts nicht mehr als 45 dB. Mit der Einhaltung der vorgenannten Grenzwerte ist es nicht getan. So mancher hatte in einer Sommernacht Bekanntschaft mit einer Fliege gemacht. Ihr Summen vermasselte bei gerade mal 15 dB den Schlaf.

Mittlerweile wissen Psychoakustiker, dass es auf den Wert des Schalldrucks alleine nicht ankommt. Unser Gehirn – es sortiert permanent 95% der Geräusche aus – spielt genauso eine Rolle wie unsere gesundheitliche Verfassung.
Das Donnern der Wellen an der Brandung ist oftmals lauter als die örtliche Hauptstraße (60 bis 80 dB). Im Strandurlaub können wir trotz des Lärms prima erholen. Zur späten Stunde gehen wir in die Disco und tanzen zur Musik mit der Lautstärke eines Presslufthammers (100 dB), während wir uns auf dem Heimweg über das Handytelefonat (50 dB) auf der anderen Straßenseite ärgern.

Die Menschen haben sich an zahlreiche Geräusche gewöhnt. Würde der elektrische Rasierer am Gesicht nicht die bekannten Geräusche von sich geben, zweifelt mancher an der Funktionsfähigkeit des Gerätes.
Grüne Sportwagen lassen sich schlechter verkaufen als ein roter, dessen Motorgeräusche als kraftvoller empfunden werden.

Was tun, wenn es einen zu laut wird? Zum einen könnten daheim alle Türen und Fenster geschlossen werden. Alternativ gibt es in vielen Städten „Orte der Stille“. Kirchen und Klöster bieten Schweigesemiare an. Stille und Spiritualität gehören nicht nur in der christlichen Religion schon seit Jahrhunderten zum festen Bestandteil des Glaubens. Stille – so heißt es – macht empfänglich für Verdrängtes und Unbewusstes, aber auch für die Stimme Gottes.

Stille könnte etwas Schönes sein. Leider bewirkt sie bei vielen Menschen das Gegenteil! Ein Zen-Meister fasste das Problem zusammen: „Wenn es außen still wird, geht der Lärm von innen los“.
Nicht alleine das Aufprallgeräusch eines Kugelschreibers auf dem Fußboden kann im ruhigen Ambiente unangenehm wirken. Stille lässt viele Alleinstehende sich einsam fühlen. Kein Wunder, dass gerade in solchen Haushalten der Fernseher als Ersatzgeräuschkulisse dienen muss.

Psychoakustiker empfehlen beim akuten Bedürfnis nach Stille einen Spaziergang in der Natur oder im nächsten Wald. Das Singen der Vögel, das Rauschen der Blätter im Wind und das Plätschern des Wassers im Bach ist eine wohlklingende Sinfonie nicht nur für gestresste Großstadtohren.

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