Carla Singer, VCPerin, 25 Jahre aus München arbeitet zurzeit als Teamleiterin in der Flüchtlingshilfe.
Das Interview führte Diane Tempel-Bornett.
VCP: Carla, kannst du uns erzählen, was du genau machst?
Carla: Ich betreue mit einem Team von sechs Frauen und zwei Männern 36 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Das heißt, sie fallen offiziell unter das Jugendhilfegesetz und werden in eigenen Häusern, separat von den Erwachsenen, untergebracht.
VCP: Man sieht in der Berichterstattung eigentlich fast nur junge Männer.
Carla: Das ist in der Regel auch so, zumindest bei den Jugendlichen. Überleg mal die Situationen, aus denen die Flüchtlinge kommen. Da schickt man keine Mädchen allein in ein fremdes Land oder auf die Flucht. Die wenigen Mädchen, die herkommen, sind oft Waisen oder vor Zwangsheirat, Gewalt oder Genitalverstümmelung geflüchtet. Viele Mädchen, die hier ankommen, haben ganz schlimme Dinge erlebt. Bei den erwachsenen Flüchtlingen gibt es allerdings viele Familien mit Müttern und Töchtern. Die werden von der Presse aber seltener fotografiert. Warum auch immer.
VCP: Woher kommen die Jugendlichen in eurer Einrichtung?
Carla: Das wechselt. Im Moment kommen viele aus Afghanistan, aber auch aus Somalia, Eritrea und Syrien. Und ein paar auch aus Ländern wie Kosovo, Pakistan, Bangladesch, Gambia. Also auch aus Ländern, die angeblich sicher sind.
VCP: Erzählen die Jugendlichen über ihre Heimat und ihre Fluchtgründe?
Carla: Manche erzählen schon, aber natürlich weiß man nicht, ob das alles stimmt oder ob man ihnen gesagt hat, was sie sagen sollen. Viele flüchten vor dem Krieg, viele haben auch alles verloren. Manche Jungen aus Eritrea flüchten vor dem Militärdienst. Manche flüchten auch vor persönlicher Verfolgung. Es gibt auch Jugendliche, die nach Europa kommen weil sie homosexuell sind. 1Darauf steht in einigen Herkunftsländern die Todesstrafe. Wir erklären ihnen dann behutsam, dass das in Deutschland nicht verfolgt wird.
VCP: Die Menschen müssen ja auch einiges erklärt bekommen – davon wie das Leben hier funktioniert bis zu den Kulturunterschieden.
Carla: Allerdings. Das ist auch eine unserer Hauptaufgaben. Das geht los damit, dass man den jungen Menschen erklärt, dass sie wenn sie zum Haareschneiden gehen, eine Quittung mitbringen müssen, damit es abgerechnet werden kann. Quittungen sind wichtig, sonst müssen sie es vom Taschengeld zurückbezahlen. Das ist für viele Nicht-Deutsche schwer nachvollziehbar, aber so ist das hier mit öffentlichen Geldern.
Aber genauso muss man ihnen auch erklären, dass die Leute nur wenige Klamotten tragen, wenn es warm ist und dass sich hier niemand dran stört. Oder beim Oktoberfest ausgeschnittene Dirndl und kurze Lederhosen. Und wir müssen ihnen nicht nur die Welt erklären, sondern auch, wie man sich hier benimmt und mit ungewohnten Dingen umgeht.
VCP: Wenn die Flüchtlinge bei euch ankommen, was passiert dann
Carla: Sie benötigen erstmal eine medizinische Grundversorgung. Viele waren monatelang auf der Flucht, teilweise unter schlimmsten Bedingungen und haben entsprechende körperliche Beeinträchtigungen davon getragen. Sie benötigen medizinische Hilfe. Dann brauchen sie Papiere und Kleidung. Und dann auch Schulplätze. Es gibt Drei-Monatskurse, damit sie ein Grundwissen der deutschen Sprache erlernen. Manche müssen überhaupt erst alphabetisiert werden. Dann können sie in Berufsschulen oder weiterführende Schulen gehen. Wir betreuen die Jugendlichen rund um die Uhr, tagsüber mit pädagogischem Fachpersonal, nachts sind Securities da. Zweidrittel der Flüchtlinge gehen anschließend in betreute Wohneinrichtungen für Jugendliche.
VCP: und das dritte Drittel?
Carla: Einige werden volljährig, bevor sie einen Platz bekommen, einige ziehen weiter in andere Länder, ein paar haben Familie in Deutschland und können dort leben. Hin und wieder klappt es auch mal, dass sie in eine Pflegefamilie kommen. Viele Jugendliche, die sehr selbstständig sind, können auch in eigene Wohnungen ziehen, wo sie nur noch bei Bedarf Hilfe von Sozialarbeitern bekommen.
VCP: Wie verständigt ihr euch?
Carla: Meist mit Händen und Füßen. Wir können auch Dolmetscher bestellen. Und die Jugendlichen lernen super schnell Deutsch!
VCP: Wie geht es den Jugendlichen dann, wenn sie hier angekommen sind?
Carla: Bei manchen hat die ganze Familie, teilweise das ganze Dorf zusammenlegt, damit sie die Flucht bezahlen können. Darauf ruht dann die Hoffnung. Dass sie Geld verdienen und das dann nach Hause schicken können. Oder die anderen nachholen. Aber wenn sie dann hier sind, realisieren sie schnell, dass das alles nicht so einfach geht. Das wollen sie ihren Familien gegenüber aber nicht zugeben, egal, wie schlecht es manchen Leuten hier geht, bei dem hohen Preis den der Rest der Familie bezahlt hat. Und es ist auch etwas dran – für viele ist selbst ein monatelanger Aufenthalt im Flüchtlingslager oder jahrelanges Warten auf Arbeit besser als das Leben zuhause in den Herkunftsländern. Und das sage ich auch bei allen Diskussionen zu Thema Flüchtlinge oder Abschiebung. Es ist unsere Pflicht, den Flüchtlingen zu helfen. Und die meisten fassen doch recht schnell Fuß und sind motiviert, etwas zu erreichen. Manche fangen bereits nach ihrem ersten Jahr in Deutschland eine Ausbildung an oder schreiben ihr deutsches Abitur.