Ehre, Geheimnis, Skandal – Auf der Suche nach der Wahrheit

Foto: VCP

Triggerwarnung: Der folgende Text setzt sich mit dem Thema sexualisierte Gewalt auseinander. Falls dieses Thema bei dir ungewollte Emotionen oder Erinnerungen auslösen kann, solltest du diesen Beitrag nicht bzw. nicht alleine lesen.

Bei keiner Organisation sind mehr Missbrauchsfälle gemeldet worden als bei den Boy Scouts of America (BSA). Weltweit. Mehr als bei der katholischen Kirche. Pfadfinder sind eine „Hochrisiko-Organisation“. Und die BSA ist pleite.

Mit diesen reißerischen Überschriften beginnt der Film „Pfadfinderehre: Die Geheimakten der Boy Scouts of America“.

Die Netflix-Dokumentation ist nicht die erste, die Missbrauch bei den Pfadfinder*innen thematisiert und aufdeckt. In den letzten Jahren wurden Missbrauchsfälle auch in Deutschland bekannt, auch beim VCP. Auch im VCP wurden Kinder und Jugendliche sexuell missbraucht und es ist nicht ausgeschlossen, dass weiterhin Fälle auftauchen werden. Schlimmer noch: Dass es auch bei uns immer noch Missbrauch gibt.

Die Netflix Dokumentation wird, so meine erste Prognose, den deutschen Pfadfinder*innen keinen nennenswerten Imageschaden zufügen – wenn man schon weiß, was VCP, BdP etc. sind. Dazu am Ende mehr.

Also alles halb so schlimm?

Kein bisschen. Was haben die fürchterlichen Missbrauche bei der BSA mit uns zu tun? Können wir sinnvolle Konsequenzen ziehen aus dem, was die Dokumentation ans Licht bringt?

Ich würde sagen, es gibt Faktoren, die die BSA besonders anfällig für diese Verbrechen machen. Manche gibt es auch bei uns.

  • Die Boy Scouts sind ein Unternehmen, dass auf Spendengelder angewiesen ist. Bis 2019 war einer der Hauptgeldgeber die Kirche der Mormonen. Sie haben sich von den Boy Scouts getrennt, weil ihnen nicht gefällt, dass dort schwule Leiter seit 2015 nicht mehr ausgeschlossen werden.

Der VCP ist ein gemeinnütziger Verein, der durch Mitgliedsbeiträge, staatliche und kirchliche Zuschüsse finanziert wird. Der Haushalt ist öffentlich einsehbar, die Mittelzuwendung transparent.

Diversität macht eine Organisation sicherer.

  • Die BSA hat eine homophobe, queerfeindliche Geschichte. Die Rollenbilder der BSA sind konservativ und heteronormativ. Das bedeutet nicht automatisch sexuell übergriffig, keineswegs. Wenn jede Abweichung von der Norm aber verboten wird, wird sie im Zweifel auch totgeschwiegen. Und eine Kultur des Schweigens begünstigt Missbrauch.

Bei uns im VCP? Hier hat sich in den letzten Jahren viel getan hinsichtlich einer Öffnung des Verbandes. Als koedukativer Verband sind wir nicht immun gegen problematische Strukturen – aber auch nicht so anfällig. Gendersternchen, Regenbogenfahne, Awareness, das mag auch in unserem Verband nicht allen schmecken. Aber allein schon die Diskussionen machen den Verband ein bisschen sicherer, sie machen aufmerksamer.

  • Die BSA will eine Marke sein. Die BSA ist ein Unternehmen. Hier geht es um Image, um Geld und damit vor allem um Macht. Das Image der Marke ist wichtiger als die Gesundheit des Einzelnen. Deswegen wurden beispielsweise bekannte Vorfälle nicht weiterverfolgt. Deswegen wurden Täter nicht bestraft oder wenigstens entfernt. Auch hier wird eine Strategie des (Ver-)Schweigens genutzt. Die Aktenschränke bleiben verschlossen.

Beim VCP? Auch hier geht es schnell um den Schaden, den Verband nehmen könnte, vor allem finanziell. Auch bei uns geht es immer wieder um Marke und Macht. Auch wir wollen immer wieder die größten, besten und tollsten sein. Das Gegenmittel im VCP: Demokratie auf möglichst vielen Ebenen und: Ehrenamt. Das hilft.

  • Die Betroffenen haben keine Stimme und werden stigmatisiert. Auch in der Missbrauchsdebatte im VCP taucht dieses Muster immer wieder auf. Betroffene wird eine Teilschuld gegeben, vor allem Mädchen im Teenageralter. Ihr aufreizendes Verhalten führe zu Übergriffen.
  • Die BSA, so wird es im Film berichtet, lehnt eine systematische Aufarbeitung seiner Missbrauchsfälle ab, ebenso die Einrichtung eines unabhängigen Untersuchungsausschusses. Der VCP hat eine unabhängige Aufarbeitung beauftragt, sie beginnt im Herbst 2023.

Das größte Problem

  • Vertrauen. Für mich persönlich ist das der komplizierteste Punkt. Sehr vieles, was die Pfadfinderei im Guten ausmacht, beruht auf Vertrauen. Keine Gemeinschaft ohne Vertrauen. Keine Fahrt, kein Hajk in netzarme Gebiete ohne Vertrauen. Kein Schlafen im Zelt ohne Vertrauen. Das macht uns zur Hochrisiko-Organisation. Die Herausforderung für uns wird sein, eine Kultur des Hinsehens, der Offenheit zu errichten, die nicht auf Kosten von Vertrauen und Nähe geht.
  • Kontrolle. Der Film berichtet auf fast verstörende Art, wie leicht es ist, ein Leiter bei den Boy Scouts zu werden. Nirgends, so sagen auch Täter, ist es leichter als bei den Pfadfindern, ungestört Nächte mit Minderjährigen zu verbringen. Die Eingangsbedingungen sind lasch oder nicht existent: zu teuer, zu aufwändig, man will keine Freiwilligen abschrecken. Denn, und das ist genau wie bei uns: „Ehrenamtliche werden verzweifelt gesucht“.

Endlich geschafft: wir sind auf Netflix!

Pfadis bei Netflix? Gut oder schlecht? Die mediale Aufbereitung der Vorkommnisse in den USA muss genau angeschaut werden. Netflix ist kein politischer Sender, sondern ein Unternehmen, dass durch Unterhaltung Geld verdienen möchte.

Das merkt man auch dem Film an. Vieles ist mit dramatischem Sound unterlegt. Die traurigen Fakten werden im CSI-Stil ästhetisch aufgemotzt. Emotionalität steht im Vordergrund. Ich persönlich finde: alles noch im Rahmen.

Ich hätte mir mehr Stimmen von den Pfadfindern gewünscht. Mehr Konfrontation. Die BSA schickt den Justitiar vor die Kamera und der gibt eine denkbar schlechte Figur ab. Man glaubt ihm nichts. Gibt es keine kritischen Stimmen in der BSA? Pfadfinder vor Ort (inzwischen auch Pfadfinderinnen)? Was auch komplett fehlt sind Eltern, die sich dazu äußern. Was fehlt sind Statements aus der Politik, die in den USA besonders eng mit dem BSA verbunden ist.

Was wir sehen und hören, sind vor allem Betroffene. Das ist sehr gut. Sie werden auch in unseren Debatten schnell vergessen, gerade wenn es um Anerkennung geht.

Mein Sohn ist Stammesleiter. Er meint: „Wenn Eltern diesen Film sehen, melden sie ihre Kinder niemals beim VCP an.“ Das ist eine berechtigte Sorge. In 90 Minuten kann man einen differenzierten Blick auf ein Thema werfen, zurück bleibt meist aber nur ein Eindruck. Der ist hier in Bezug auf die Pfadfinder*innen negativ. Aber es soll auch um das Leid der Betroffenen gehen und nicht um eine detaillierte Darstellung, was Pfadis alles tun (eben auch sehr viel Gutes). Nach dem Desaster einer völlig intransparenten und miesen Jamboree Organisation nun dieser Film.

Schlussfolgerung? Lernen wir aus diesen Fehlern und machen das Pfadfinden zu einer besseren Sache als wir sie vorgefunden haben.

Mehr zu dem Thema in dem Statement vom rdp!

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